"Vision of A New Culture"
The Original Tradition

 

DIE GROßE MUTTER und IHRE
SÖHNE/LIEBHABER
von einem anonymen Verfasser
Vermutlich aus der Wilhelmischen oder Weimarischen Zeit
als verstückeltes Exemplar auf einem Büchermarkt gefunden

Das "Ewig-Weibliche" von Carl Bantzer
(Marburger Rathaus)

INHALT

1. VORWORT
2. ERLÖSERMYSTIK
3. DER VORDERE ORIENT
4. MYSTERIENKULTE
5. DAS MUTTERKINDSYMBOL
6. DAS ABENDLAND AM SCHEIDEWEGE
7. DIE TRAGÖDIE DES MUTTERGEISTES IN DER ANTIKE
8. DIE GYNÄKOKRATISCHE URKULTUR
9. DER UNTERGANG DES MATRIARCHATS
10. ZURÜCK ZUM MUTTERGEIST

Eine anonyme Streitschrift aus den 20. Jahren
veröffentlicht von Han Marie Stiekema

1. VORWORT

Dieses Büchlein ist ein Glücksfall, denn der Inhalt ist einzigartig. Der/die VerfasserIn muß ein gelehrsamer, aber auch eine sehr inspirierte Person gewesen sein. Seine/Ihre Originalität bzw Ansichten sind nicht nur für jene Zeit ohne Beispiel. Sie sind darüberhinaus unglaublich aktuell für das heutige Millennium. Deswegen kann ich es NICHT verantworten diesen Text NICHT abzudrücken! Alles ohne irgendein persönlicher Gewinn. Ich nehme an, daß seit dieser Arbeit geschrieben worden ist, die Verjährung den Termin von 70 Jahren weit überschritten hat. So daß ich diesen Text ohne Probleme veröffentlichen kann. Sollte früher oder später herausstellen, daß irgendwie ein Urheberrecht auf diesen Text besteht, dann möchte ich gerne informiert werden. Selbstverständlich werde ich ihn dann sofort aus meiner website entfernen. Es ist eine klare Streitschrift, deswegen werde ich sie nicht durch mein Kommentar entschärfen. Aber gewiß: auch ich habe selbstverständlich Kritik an manchen Stellen. Auch sollte der Text mehr Nüance zeigen. Das Mutterprinzip sollte besser definiert werden. Den Dualismus Mutter-Erde und Mann-Geist lehne ich entschieden ab. Außerdem ist das positiv-Männliche unterbeleuchtet, während moderne Frauen ihre Stellung im Muttersystem vergebens suchen werden. Die Verführung ein zusätzliches Kapitel zu schreiben liegt auf der Hand. Dennoch bin ich fester Überzeugung, daß jeder Mensch der dies ließt Recht auf ein unvoreingenommenes Urteil hat. Dabei sollte man auch in Betracht ziehen, daß der Text unvermeidlich durch Zeitgeschehen gefärbt ist. Also sehe ich davon ab in irgendeiner Weise etwas zuzufügen oder zu ändern. Ohne dies alles ist diese Schrift was es sein wollte: ein provokativer Text die Augen öffnet. Ich glaube daß es diese Potenz immer noch hat.

Han Marie Stiekema

PS. Das Gemälde des Carl Bantzer sei allegorisch bzw spirituell aufzufassen und keineswegs gemeint als Propaganda für die Hausfraurolle!

Laß mich im düstern Reich,
Mutter, mich nicht allein!
Euphorion

2. ERLÖSUNGSMYSTIK

Alle Heilande und Erlöser der Menschheit waren männlichen Geschlechts: Buddha, Christus, Zarathustra, Marduk, Osiris, Thamuz, Hamurabi, Arunamazda, Attis, Amfortas und die lange Reihe der kleinen und großen "Erlöser" und Erlösungslehrer der Gegenwart. Kein weibliches Wesen findet sich unter den Vielen, keine Erlöserin und Heilandin. Eignet sich der Körper des Weibes nicht für die Strapazen dieser erhabenen Berufsgattung? Oder ihre Seele nicht? Die Sündenschuld der Welt war wohl so groß, daß nur Mannesschultern sie tragen konnten? Doch nein, das ist nicht der Grund, warum das Weib von der blutigen Laufbahn der Heilande ausgeschlossen war. Ein biologischer Grund muß hier vorliegen. Das Weib bedarf des männlichen Erweckers und Auslösers des Lebens in ihrem Schoße, des Öffners der "Pforte der Geburten", durch den das Leben aus- und eingeht. Dieser "Erlöser" aber trägt die Speerwunde, die Nägelmale an Händen und Füßen, jene ewig wiederkehrenden Symbole aller Erlöser. Für ihn ist jene Pforte das Sepulcrum, in das die Erlöser hinuntersteigen müssen, um wieder auferstehen zu können und unsterblich zu sein im Kinde. Deshalb gilt von allen Erlösern das Wort:

"Niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten," so schuf der männliche Genius aus seiner Idee heraus die Erlösungsmystik mit ihrem ganzen ungeheuren Apparat. Er schuf sie in der gleichen Grundstruktur bei allen Völkern und in allen Kulturen. Erkenntnis, Verkündigung der Lehre, Martyrium und Sühnopfer, Tod, Auferstehung, das sind die fünf Stadien des "Pfades", den alle Erlöser beschreiten, nicht nur die indischen. Und es scheint, daß die spezifische Geschlechtstragik der männlichen Naturpotenz, ihr Hinsterben im Isis-Schoß und Wiederauferstehen im Kinde, in allen Erlöserlegenden Gestalt gewonnen hat, daß das TodLebensgeheimnis des männlichen Geschlechtspartners, dessen Lebenslinie im Begattungsakt endet, ihren biologischen Sinn ausmacht. Und die Konsequenz des Gedankens wäre, daß der Mann niemals eigentlich "Erlöser" war, sondern immer nur der Erlösungsuchende und Erlösungsüchtige. Denn er findet die Erlösung, die er sucht, nirgends, nicht einmal beim Weibe. Das Unerlösteste und Erlösungbedürftigste, was es in der Schöpfung gibt, ist der "Erlöser", nämlich das männliche Geschlechtswesen, dieser Ixion, Oknus, Tantalus, Sisyphus, Prometheus. Kein Wunder, daß die Menschheit heute noch genau so unerlöst ist wie vor 3000 Jahren, wo noch in jedem Dorf ein Heiland wohnte; ja unerlöster als jemals zuvor. Der männliche "Erlöser", dem ein so düsterer Vergänglich- keitscharakter innewohnt, kann sie, wie es scheint, gar nicht erlösen. Das einzige, was er, in seiner Sehnsucht wenigstens, erreichen kann, ist das, was Richard Wagner im Parsifal als "höchsten Heiles Wunder" preist: "Erlösung dem Erlöser".

Durchwandern wir die wundersame Geschichte der männlichen Erlösungsromantik. Schauen wir, prüfen wir, deuten wir! - Nur der moderne Mensch kann hier richtig deuten, nur er ist kritisch gegen alles Gewesene. Der männliche Geist als solcher ist stets geneigt, für gültig allem Menschenwesen zu erklären, was doch in erster Linie für ihn gültig ist und nur deshalb für beide Geschlechter bisher als gültig erschien, weil er der Vormund und Theoretiker auch des weiblichen Teiles der Menschheit war. Ganze große geschichtliche Gebäude, die typisch männliches Sehen und Sehnen, Wünschen und Wähnen aufgeführt hat, gilt es, ins rechte Licht zu rücken in einer Zeit, wo der Mann an sich selbst und der Richtigkeit seiner Geschichtstaten zu zweifeln beginnt und das weibliche Geschlecht mit eingetreten ist in die Bildung der Menschheit. Wir wollen dem männlichen Genius die Gerechtigkeit widerfahren lassen, an seiner größten und schmerzhaftesten Idee, der Erlösungsidee, sein Wesen verstehend abzulesen, ohne jenen Hohn und Spott, den seine sozialen Schöpfungen in so reichem Maße herausfordern. Wir wollen den Kern der Mannesseele, die Amfortaswunde, aufdecken und ihre Logik schreiben von einem gleichsam übergeschlechtlichen Standpunkt aus. "Denn furchtbar heilig, an alle Himmel geworfen, funkelt sein Schmerz durch die Geschichte des vorderen Orients."

3. DER VORDERE ORIENT

Erlösererwartung ist das Herz aller alten und neuen Religionsgeschichte, der biblischen wie der außerbiblischen. Auch die heutige Menschheit wartet auf den Erlöser, mag sie auch längst gott- und christuslos geworden sein. Er ist bisher noch nicht gekommen, der wirkliche große Menschheitserlöser, weder in noch außerhalb der Bibel. Er kann auch so nicht kommen, wie die bisherige Menschheit es sich dachte. Erkennen, Leiden, Sterben und Wiederauferstehen ist noch nicht Erlösung. Auf der Straße des Sündengefühls und Todesbewußtseins wird der wirkliche Erlöser niemals kommen, nicht aus dem Garten Gethsemane, nicht vom Berge Athos, nicht im härenen Gewande, nicht in der Dornenkrone, diesem seltsamen Kopfschmuck, den alle Erlöser des Morgen- und Abendlandes tragen. Nicht von einem, der sich in seinem eigenen Erleben zum Gott hinaufsteigerte, um dann auf göttliche Weise zu fühlen, daß er nur ein leidender, zerbröckelnder Mensch ist. Seltsame Menschheit, daß dein Erlöser sterben muß, damit du glaubst, leben zu können! Ein schwerer, weher Glaube! - So stirbt ewig der Brudersohngatte in den Armen des Weibes, Osiris bei Isis, Thamuz bei Ischtar, Adonis bei Persephoneia, Attis bei Rhea. Warum aber stirbt die Mutter nicht? Ihr Gewand färbt sich nur dunkel, wenn ihres Heilandsohnes Leiche im Sepulcro durch die Gassen getragen wird, wie man alljährlich in der Osterzeit in Süditalien sehen kann. Düster wandert dann Dolorosa in der Abenddämmerung hoch über den Lichtern des Zuges, in schwarzer Trauer. Am Ostermorgen aber ist ihr Gewand wieder licht, von weißer Seide. Mit blühenden Orangenzweigen geschmückt weht es in der hellen Sonne. Nur die Heilande sterben, die Heilandsmütter trauern wohl und tragen das Schwert im Herzen, aber sie sterben nicht. Merkwürdig, daß man gerade den, der sterben muß, den Lebendigen, den Gesalbten und den Erlöser nennt, diesen ewigen Osiris, nicht aber die unvergänglich thronende Himmelskönigin und Christusmutter , welche "Alma dei mater, Felix porta coeli Atque semper virgo" heißt. Der Gott stirbt, die ewig-jungfräuliche Gottesmutter nicht. Sie ist die selige Himmelspforte, durch welche die düstre Christustragik des Mannes aus- und eingeht, eingeht, wenn er zeugt oder stirbt, ausgeht, wenn er wieder geboren wird und wieder aufersteht im Horuskinde. Denn dies ist der Sinn und das natürliche Geheimnis aller Erlösungsmythen. Es ist der Satz: das Osirisgeschlecht lebt und stirbt am weiblich-mütterlichen als seinem Grund- und Urgeschlecht und steht an ihm wieder auf. So stirbt der Drohn am Mutterleib der Bienenkönigin und kehrt aus ihrem Schoße wieder. Auch er: ein "Auferstandener", ein kleiner Christus aus Chitin, wie Tausende seiner Brüder, ein Gekreuzigter, dessen Leiche in die blühenden Gräser sank. Die Gottesmutter ist niemals "auferstanden". Sie starb ja nicht, sie ist ja Symbol des "Ewig-Weiblichen". Die Grundideen der christlichen Religion sind also biologisch richtig gebaut. Hierin liegt ihr Unvergänglichkeitswert, nicht im Dogmatischen. In der Muttersohnschaft Christi liegt er, nicht in seiner Gottes- oder Geistessohnschaft.

Madonna Ischtar wurde damals verehrt, Astarte oder die Sternen-Ischtar. Denn der Mond und die Sterne kreisten um das Haupt dieser uralten Himmelskönigin. In Sumer und Babylonien, mehrere 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, betete man zu ihr. Sie war der Urgrund aller Dinge, die kosmische Allmutter, das "Ewig-Weibliche", aus dem sich Welt gebar, Welt wieder verlorenging. Jungfrau auch sie wie unsere Jesusmutter, d. h. ewig-jungfräulich oder urgeschlechtlich, "semper virgo", d.h. niemals alternd, von "unbefleckter Empfängnis", der ewig und sei es parthenogenetisch gebärende Urschoß der Welt selbst. Ninchursag hieß sie, "die auf dem Weltberg Thronende", auch Ninmach, "die große Herrin". Die Babylonier nannten sie auch Belti, d. h. "meine Herrin", also wörtlich "Madonna", unsere liebe Frau. Alle älteren sumerischen Tempel waren dieser Muttergöttin heilig, von einem Allvater war damals noch nicht die Rede. Die Kuh als säugendes Wesen und Muttersymbol war ihre irdische Repräsentantin, der Morgen- und Abendstern ihr Offenbarungsgestirn. Ave stella maris, so singen wir und beten wir noch heute.

Armes Erlöserkind der Mutter-Göttin Ischtar! - "Wegen meines Bruders muß ich klagen, klagen, klagen immerfort. Ich muß klagen mit einem Klaggesang wegen des Mannes." In der Literatur der sumerisch-akkadischen Zeit (3. Jahrtausend) heißt das Erlöserkind Thamuz, auch Damuzi, d. h. das rechte, das "eingeborene Kind" der großen Madonna. Um 2600 vor Christi Geburt wird Thamuz, dieser uralte Christus, zum erstenmal in historischen Inschriften erwähnt. Thamuz ist Sohn, Bruder, Geliebter und Gatte der Mutter-Göttin zugleich (genau wie Osiris), d. h. also der männliche Partner des Weibes als solcher und in jeder Form. Sein düsteres Tod- und Aufer- stehungsschicksal wird in den Thamuz-Kultliedern, welche sich in der Bibliothek des Asurbanipal fanden, betrauert. Seltsam! Die Mutter-Göttin selbst ist es, die dem "Thamuz Jahr für Jahr Weinen verursacht", wie es im Gilgamesch-Epos heißt. Gemeint ist das sexuelle Leid, das Thamuz von der Mutterschwestergattin erfährt wie jedes männliche Wesen.

Der brüllende Weltstier lebt nicht mehr, der brüllende Weltstier lebt nicht mehr
Thamuz, der brüllende Weltstier, lebt nicht mehr, der brüllende Weltstier
lebt nicht mehr
Mein Mann lebt nicht mehr, der brüllende Weltstier lebt nicht mehr
Ich bin die Herrin, mein Mann lebt nicht mehr
Der Herr der Tiefe ist nicht mehr
Der Hirt, der Herr Thamuz ist nicht mehr
Der Gemahl der Himmelskönigin ist nicht mehr
Der Bruder der Mutter Geschtinanna ist nicht mehr
Ach, um den Grabhügel will ich mich kümmern usw.

Karfreitagsklage! - Es trauert die Mutterschwestergattin Ischtar um den toten Sohnbrudergatten Thamuz, d.h. das Ewig-Weibliche um das Vergänglich-Männliche, das zur Unterwelt hinabsteigt. Es folgen die Freudenlieder des Thamuzkultes, ein uraltes Seitenstück zu den "Misteri gloriosi" der christlichen Osterzeit.

Groß ist er, groß ist er, der Herr ist groß
Sein Haus ist ein großes Haus, der Herr ist groß
Seine Stadt ist eine große Stadt, der Herr ist groß
Sein Auge hat er wieder aufgeschlagen
Seinen Mund hat er wieder aufgetan
Sein Wort bringt wieder Fruchtbarkeit hervor
Sein - - ist hoch, der Herr ist groß
Groß ist er, groß ist er, der Herr ist groß, usw.

Das männliche Zeugungsglied lebt wieder. Es weht wieder Same. Dies die biologische Keimidee der Christusostermythe, vom mütterlichen Weib aus geschaut und gedeutet. Erst später tritt der Vatergedanke hinzu und man spricht dann, unlogisch genug, vom "eingeborenen Sohn Gottes". Thamuz hatte nur eine Mutter. Auch Jesus hatte nur eine Mutter. Von seinem "Vater" Joseph ist während seines späteren Lebens nirgends mehr die Rede. Der "Heilige Geist" soll ihn schließlich gezeugt haben. Diese Vaterlosigkeit des Nazareners, ein gemeinsamer Grundzug der vorderasiatischen Erlöser, ist eine geschichtliche Erinnerung an den Ursprung der abendländischen Christusgestalt in Sumer, zugleich eine Verwertung biologischer Urwahrheiten. Mutter und Sohn in der Bildmitte, über ihnen die weiße Taube, in unsichtbarer Ferne der "himmlische Vater" - wer bedarf seiner? - Joseph kniend und anbetend, auch er scheinbar ein Stück Thamuz, alles Licht aber auf Ischtar-Maria gesammelt und ihrem lebendig gewordenen Schoß. - So Raffael, Boticelli und Luca della Robbia!

Ein seltsames Seitenstück zur Vaterlosigkeit der Christusse im Zeitalter der Mutterrechtsreligionen begegnet uns in der Mutterlosigkeit der männlichen Intelligenzgöttin Athene im Zeitalter des apollinischen Androkratismus in Griechenland.

Aber der "brüllende ·Weltstier"! - Er bildet einen seltsamen Klang in den Thamuzliedern. Moderne Pessimisten erklären so die Welt. Aus diesem Grunde aber wachsen die Erlöser. Vom Gebrüll der Sexualität wird der Brudersohngatte erlöst in Ischtars Armen, d.h. von seinen Hörnern und Hoden. Diese sterben in der Tiefe des Urmutterschoßes. Der Same lebt weiter, aber der brüllende Weltstier wird begraben. Seine Lebenslinie endet in der weichen Falte des mütterlichen Schoßes. Um ihn das viele Weinen des Thamuz, das "ihm seine Mutter verursacht". Nun ist er tot. Aber morgen wird er wieder leben. Und übermorgen wieder weinen. Armer Hirte Thamuz, der du leidest am männlichen Herbst und Frühling, an jenem ewigen "Stirb und Werde" des Mannestums, das den Sinn aller Mysterienkulte auszumachen scheint und aus dem alle Erlösungstragik tropft.

Ischtar fährt in die Unterwelt, um ihren Thamuz zu suchen, Isis den Nil hinunter, um die zerstückelte Leiche des Osiris zu bergen. So geht auch Maria in der Morgenstunde zum Grabe des Herrn, ihres Sohnes. Siehe da: sie findet das Grab geöffnet. - O Maria, noli fiere, jam surrexit Christus vere! - Edlere Gedanken treten im Christentum hinzu, der Ursinn der Legende ist der gleiche geblieben: Tod und Auferstehung, an dem ein Teil der Menschheit krankt und der auch dem andern Teil, dem weiblichen, bittere Leiden verursacht, jenes "Schwert im Herzen", mit dem die "Gnadenreiche" hinblickt auf ihres Sohnes Tod. Immer aber der Gedanke, daß der männliche Partner in den Tod, in die Unterwelt, in die Hölle hinunter muß. Osiris bleibt sogar unten und kehrt nicht wieder. Er wird zum Totenrichter. Nur sein Sohn Horus, den Isis auf der Leiche des Osiris liegend von ihm empfing, lebt wieder. Ein Lebendiges von einer Leiche! Welch tiefer, furchtbarer Sinn! Aber so ist der Vorgang in weiten Formkreisen der Tierwelt. Darum die große Träne der Erlöser, welche alle Gekreuzigte sind, in die Hölle fahrend wie Thamuz, zerstückelt vor Schmerz wie Osiris.

Erlösererwartung in den Reichen des vorderen Orients, lange vor der Geburt Christi! Um 2000 in BabyIon. Ein Reichsgott wird geschaffen, Marduk mit Namen. Es ist ein echt männlicher Gott. Die mächtigen Priester von Babylon haben ihn gegründet, seinen Kult befohlen. Er ist Bal, der Herr.

Ischtar, die Urmutter, ist nun verdrängt vom Throne der Welt. Zwar ist Marduk, ihr Sohn, ein Wunderkind (wie Herkules bei den Griechen), das kaum der Wiege entlaufen den Drachen Tiamat besiegt. Aber der Glanz der Himmelskönigin wird noch nicht verdunkelt von der Priesterschöpfung, welche befiehlt, zu einem männlichen Gott zu beten, der der Sohnbrudergatte der Sarpanitu, der "Glänzenden Mutter", ist. Dieser männliche Gott erduldet Martern wie Christus. Er wird gefangen und begraben. Fluchzeit tritt ein. Alles leidet und stirbt auf Erden. Sarpanitu, die Muttergöttin, klagt um Marduk am Grabestor . Er wird befreit und feiert mit ihr die himmlische Hochzeit. Auf die Fluchzeit folgt die Segens zeit. Die "Glänzende Mutter" hat den "Erlöser" erlöst.

Folgen Könige und Erlöser ohne Zahl: Hammurabi, Sanherib, der Gründer Ninives, Avesta, Sargon, Gilgamesch, Asurbanipal, der assyrische Erlöserkönig usw. Sie alle sind Kind der Ischtar, von geheimnisvoller Geburt, Gottmenschen, Gottkönige. Sie alle besiegen den Drachen Tiamat, d. h. doch wohl: die Triebveranlagung der männlichen Sexualität, fahren zur Hölle und auferstehen wieder und verwandeln Fluchzeit in Segens zeit. Sie alle beginnen neue, glücklichere, erlöstere, goldene Weltalter. Sie alle sind Erretter und Entsühner, Messias und Soter, leidende Heroen, die auf sich nehmen die Sünden der Welt, wie jenes "Lamm Gottes", Heilande, in unbekannten Bergen geboren von der dunklen unergründlichen Ischtar. Vom Himmel her kämpfen die Sterne. "Das Volk Siseras", die Wandelsternbewohner, streiten von ihren Standorten gegen die Erlöser der irdischen Welt. Sie aber besiegen "das Heer der Höhe" und den entsetzlichen Saturn. Im Zeichen des Jupiter, der in der babylonischen Astrologie der Königsstern genannt wird, siegen die irdischen Gottmenschen und verwandeln Fluchzeit in Segenszeit. So durch die Jahrtausende. Denn immer wieder kehrt die Fluchzeit auf Erden.

Dies alles ist uralte Völkersehnsucht, ewig unerfüllt gebliebene. Keiner von allen diesen Erlöserkönigen hat die Menschheit wirklich erlöst, auch der Edelste unter ihnen, Christus, nicht. Unbesiegt ist, wie es scheint, "der Drache Tiamat", unbesiegt "das Volk Siseras", das vom finsteren Himmel her kämpft gegen den kleinen, funkelnden Erdenstern, auf dem so oft schon erschienen ist "die Klarheit des Herrn". "Welt ging verloren, Christ ward geboren", so singen wir noch heute. Immer ging Welt verloren, immer ward Christ geboren, immer wurde gewartet, und die Weisen standen und staunten, als Saturn und Jupiter sich dreimal in den Fischen begegneten, wie im Jahre 7 vor Christi Geburt, dem eigentlichen Geburtsjahre Christi. Eine Konstellation, welche die babylonischen Sterndeuter in tiefe Erregung versetzte. In den abgelaufenen 2000 Jahren war der Frühlingspunkt allmählich durch den Widder gelaufen. Nun stand er in den Fischen, jenem Tierkreiszeichen, das die Christen zu ihrem Symbol erhoben. Und die Magier schickten zu ihm und ließen ihn fragen: "Bist du, der da kommen soll oder sollen wir eines anderen warten?"

Warum kam Ischtar nicht selbst? Warum schickte sie ihren Sohn, die Welt zu erlösen? Den mit Leid Gekrönten, den sie selbst erst erlösen mußte vom Tode? Priesterwille hat sie entthront und ihren Sohn zum Erlöserkönig erhoben. In der gotischen Madonna kehrte sie noch einmal wieder. Damals ging ein Lächeln über die Erde. Dann aber starben alle Götter männlichen wie weiblichen Geschlechts überhaupt.

Babylon und Theben sind die beiden großen Weltzentren der vorgriechischen und vorchristlichen Kultur. Im ägyptischen Theben siegen die Erlöser über die Schlange Apophis, in Babylon über den Drachen Tiamat. Und wie heißt die Schlange, über die wir Heutigen siegen, die wir 4000 Jahre später leben?

Aus dem Urwasser Nun entstand der "Allherr" Re. Er zeugte Schu und Tefnet und verlief tragisch wie alle männlichen Gottheiten. Nachdem er zerstückelt war, entstanden aus seinen Tränen die Menschen. Schu und Tefnet erzeugten Keb und Nut, Himmel und Erde, diese wieder Isis, Osiris und Horus, die Gottheiten der sichtbaren Welt. Diese zerstückeln und verbrennen Apophis. Triumph! (Papyrus Rhind im Britischen Museum.) So entstand der König Mensch, aus dem zerstückelten Re gebildet. Jeder Zoll eine Träne!

Ich vernichtete Apophis völlig. Sein Name ist nicht mehr
Seine Kinder sind nicht mehr
Er ist nicht mehr, seine Anhänger sind nicht mehr
Er ist nicht mehr, sein Erbe ist nicht mehr, usw.

Isis und Osiris, die Zwillingsgeschwister, liebten sich schon und verkehrten schon miteinander vor ihrer Geburt, als sie noch als Embryo im Mutterschoße lagen. Ganz wie bei den Heliozoen! Überhaupt: Alles Lebendige lebt im Schoß. Nicht die Eltern, sondern ihre Kinder begatten sich in Wahrheit im weiblichen Schoße, wenn das Spermatozoon in die Eizelle dringt. Vater und Mutter umarmen sich draußen von Ferne und lösen sich wieder. Ihre Kinder aber, Isis und Osiris, werden wirklich eins, drunten in der Tiefe des Mutterschoßes.

Seth, der Finstere, besiegt Osiris, den Brudersohngatten der Allmutter Isis und zerstückelt ihn in 14 Teile, wie Plutarch berichtet. Nun herrscht Fluchzeit. Isis aber findet die zerstückelten Glieder ihres Gatten und setzt sie wieder zusammen. Nur eines fehlt, der Phallus. Auf dem phalluslosen Leichnam des Osiris sitzend, wird die ägyptische Madonna mit Horus schwanger. Sie gebirt den Erlöser knaben und "säugt ihn in der Einsamkeit, man weiß nicht wo". Als er herangewachsen war, tötet Horus den Seth und rächt den Vater. Nun wird wieder Segenszeit. Im Sohn kehrt der Vater wieder, die ewig sterbende und auferstehende männliche Samenpotenz, die sich Christus und Erlöser nennt. Und doch sagte man zur Mumie in den ägyptischen Begräbnisliturgien "Du bist Osiris!" Welch tiefer, schauerlicher Sinn vom Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen liegt in diesem uralten ägyptischen Mythos! -

Auch Isis empfängt unbefleckt den Erlöser, der Notzeit in Segenszeit verwandelt. Auch sie ist Schwestermuttergattin, auch sie Dolorosa. Osiris bleibt König des Totenreiches. "Du bist Osiris", sagte man und erschauerte. "Du bist Isis", sagte man zur Mumie nicht. Denn Isis, das Ewig-Weibliche, ist das Leben selbst. Nur Osiris, das Männliche, stirbt und steht im Kinde wieder auf. Das Weibliche aber wächst weiter im Kinde, es ist unsterblich. Alle Erlösung aber ist Sehnsucht nach Befreiung vom männlichen Osiristum, vom Sterbenmüssen und Wieder-geboren-werden, nach der Schließung der "Pforte der Geburten", wie die Inder sagten.

"Der Nil strömt über, aber niemand pflügt. Die Leute sagen, wir wissen nicht, was im Lande vorgeht. Die Frauen sind unfruchtbar. Kinder werden nicht gezeugt, Chnum formt keine Menschen mehr bei diesem Zustande des Lebens. Arme Leute werden reich, die sich keine Sandalen machen konnten, werden Besitzer von Reichtümern. Plage ist im ganzen Land, Blut fließt überall, der Strom ist voll Leichen. Die Reichen sind in Trauer, die Armen voller Freude, jede Stadt sagt: Laßt uns die Mächtigen unterdrücken. Das Land dreht sich im Kreise wie ein Töpferrad. Der Nil ist voll Blut, und doch trinken die Menschen daraus. Die Krokodile sind fett von der Beute. Oberägypten ist wüste geworden. Die Erbauer von Pyramiden sind Feldarbeiter. Die Schatzhäuser sind leer. Raub und Plünderung herrschen. Die Akten der Gerichtshallen sind geraubt, die Orte der Mysterien aufgetan, Zaubersprüche sind profaniert, Sklaven sind Herren, Herren Sklaven. Der Reiche dürstet in der Nacht, der Bettler hat Schalen voll Überfluß. Der nie eine Leier besaß, hat jetzt eine Harfe. Die Viehherden sind zerstreut, jeder sucht nach seinen Tieren. Kein Handwerker arbeitet, die Schreiber sitzen müßig im Amt. Aller Frohsinn ist zu Ende. Das Land ist voll Seufzer, die Toten gleichen den Lebenden. Junge und Alte sehnen sich nach dem Tode, Kinder klagen, daß sie geboren werden." Fluchzeitschilderungen aus dem Ende des alten Reiches, 2500 vor Christi Geburt (nach Jeremias: Die außerbiblische Erlösererwartung). Wie modern klingt dies alles!

Iran. Dieser Heiland lachte, als er dem Schoß seiner Mutter verließ. Er, Zarathustra. Bisher hatten alle Kinder geweint, wenn sie geboren wurden. Er aber lachte aus vollem Halse. Die Anhänger des Bösen spürten an einem Stachel in ihrem Herzen, daß der "Heiler des Lebens und der Welt" geboren war. Die Magier versuchten, ihn zu verderben. Sie warfen das Kind auf eine Straße, auf der die Herden zogen, damit es von den Ochsen zertreten würde. Aber die frommen Tiere - -.

Untröstlich war der "Urstier", bis man ihm die neugeborene Seele des Zarathustra zeigte.

Der "kosmische Urmensch" kehrt in diesem lachenden Lichtjüngling irdisch auferstehend wieder. Im zweiten der 3000jährigen Weltalter, also in vorirdischer Zeit, wurde der kosmische Urmensch geschaffen, damit er dem höchsten Gott helfe im Kampf gegen feindliche Geistwesen, welche in diesem Weltalter ins Weltgeschehen eindrangen und eine Gegenschöpfung beabsichtigten. In seinem Kampf gegen das Heer Ahrimans verliert der kosmische Mensch Lichtteile. Er stürzt in die materielle Welt. Seitdem kämpft er um seine Erlösung. Er hat Lichtteile gerettet aus dem vergangenen Äonenlauf.

Dughdo hieß die Madonnamutter des Zaratuscht. Nach 5 Monaten, 20 Tagen und einer Nacht empfing die unbefleckt Schwangere in ihrem Schoße die Lichtseele des Zarathustra. Gleich darauf erhob sich eine finstere Wolke, so träumte ihr, aus der die wilden Tiere, Ahrimans Heer, auf sie stürzten. Das wildeste riß ihr den Leib auf, um Zarathustra zu vernichten. Zarathustra aber rief lachend aus ihrem Schoße: "Fürchte dich nicht, sie haben keine Macht an mir!" Ein Engel naht mit einem Lichtzweig, die Bestien fliehen. Der Engel legt Zarathustra wieder in den Mutterleib zurück. "Fürchte dich nicht", spricht der Engel, "freue dich vielmehr, diesen Sohn zu gebären, denn die Welt ist voll Hoffnung auf seine Ankunft. Durch seine Gerechtigkeit wird die ganze Welt jubeln, und der Tiger wird zur Tränke gehen an der Seite des Lammes."

Zarathustra, d.h. der Glückselige, die einzige Erlösergestalt, auf der Sonnenlicht ruht, wird geboren. Das Zimmer ist hell von seinem Glanze. Er ist das äonenalte göttliche Ur-Ich im Menschen, gefangen von ahrimanischen Seelen gewalten, in denen das niedere Triebleben verkörpert erscheint. Er strebt zurück in die Lichtwelt, aus der er kam. Er trägt der Menschheit Unsterbliches. Der persische Heiland, Mitra, ist Zarathustra nahe verwandt. Seine Madonna heißt Anahita, die "Reine". Auch sie hat unbefleckt empfangen wie alle Heilandsmütter, was fleckenlos sein soll. Unter Xerxes II., um 400 vor Christi Geburt, wurde in Persien schon die Jungfrau verehrt. Kosmische Fürbitterin war sie, Nothelferin, wie die gotische Madonna.

Heil über dich aus der Welt der Freude,
Aus der ich deinetwegen gesandt bin.
Und jener antwortete dem, der ohne Leid ist:
Ich bin ich, der Sohn der Zarten.

So viele Länder, so viele Bethlehems und Heilande! Und immer noch nicht ist die Welt geheilt, durch Lachen nicht und nicht durch Weinen. Irgendwo liegt ein Urfehler des Heilsgedankens. Die Schöpfer haben gekämpft in den abgelaufenen Weltwerdungen, die Lichten mit den Finsteren, Ahuramazda mit Ahriman. Die Finsteren haben den Sieg der Lichten verhindert. Tod und Erde wurde Tag und Nacht, Gut und Böse, Leben und Sterben, Männliches und Weibliches. Nun gilt es, wiederzubringen. Denn " Welt ging verloren". Wiederbringung zum lichten Ur ist der Sinn unseres Äons. Darum leben und leiden irdische Erlöser, daß ein Äon folge, wo schwarzer Erdstoff nicht sei, Grabesdunkel und Sterbekammer, Krankheit, Alter, Armut und Tod, die vier grauen Schwestern des Buddha. Naht aber der Erlöser, so erwachen die wilden Bestien Ahrimans und der finsteren Weltschöpfung. Sie hören seinen hellen Schritt, wenn er heraufgewandertkommt durch den Mutterleib. Sie reißen den Leib der Mutter auf, sie zerfleischen das Kind, dessen Haupt schon anfing zu leuchten. Wahrhaftig: Ahrimans Bestien leben noch heute. Sie umlauern jeder Mutter Schoß, ihr Geborenes zu vernichten. Gasmasken tragen sie heute, Menschenantlitz ist nicht mehr zu sehen.

Auf vergangene Äonen wälzt man die Schuld. Damals ging Welt verloren. Nun bluten wir alle. - Großartig, sich mit Äonen zu entschuldigen! Wo es in Wahrheit doch nur einen Äon gibt, in dem die lebendige Naturmutter waltet, in deren liebenden Armen das Kindwesen Welt ruht. Hat nicht vielleicht die düstere und blutige Kreuzbalkendramatik die Menschheit durch eine schmerzhafte Suggestion geschwächt und kränker gemacht, als sie in Wahrheit ist. Wer einen blutigen Gemarterten anbetet, eine Krone von Dornen, der trägt vielleicht selbst die Schuld, wenn auch ihm eines Tages ein "Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn" aus den Schultern wächst, wie es der Menschheit bis heute widerfährt.

Es gab auch eine griechische "Mutter". Apoll hat sie verdrängt. Es ist Athene, die aus dem gespaltenen Haupt des Zeus, d.h. des Absoluten, hervorging, selbst mutterlos, also selbst Urmutter, Demiurga, d.h. Weltgestaltende, wirkende göttliche Geistkraft, Sophia (Gnosis). Athene trägt als Attribut die von Perseus geköpfte Gorgo, in der der babylonische Drache Tiamat, die Schlange Apophis der Ägypter auf griechisch weiterlebt. Perseus erschlug die Medusa, Athene Promachos half ihm dabei. Sie war es, die die Mächte der Finsternis besiegte. Sie trägt das Triumphzeichen der geistgeschmückten Hellenen. Athene ist die Helferin und Schutzgöttin der Heroen auf ihren Irrfahrten durchs Irdische. Das Mütterliche an ihr tritt stark zurück hinter dem Schwesterlichen, Kameradschaftlichen, ja Mannweiblichen. Sie regiert den kämpfenden Arm des Helden. In der Not tritt sie hervor, die geniale Idee verkörpernd, in der die letzte Rettung liegt. Wenn die Kraft des Armes versagt, kämpft Athene, die männliche Erkenntniskraft, weiter. Ihr Tempel steht auf der Hohenstadt, der Akropole der klassischen Welt. Ihre widerspruchsvolle Gestalt scheint zu sagen, daß das höchste Göttliche der Weisheit dem kämpfenden Manne aus der Verbindung mit dem schützenden und hütenden Muttergeschlecht kommt. Wir Heutigen verehren Athene nicht mehr. Der Kampf unserer Zeit scheint "unathenisch", ihm fehlt die Schutzgöttin.

Urvater Chronos verschlingt seine Kinder, ein schauerliches Bild aus der ältesten griechischen Sage. Urmutter Rheia sieht es mit Schrecken. Sie umwickelt einen Stein mit Ziegenhaar , so rettet sie das Zeuskind. Die Ziege Amalthea säugt es. Es wächst heran und wird Soter, der den greisen Chronos erschlägt. Hesiod! Auch der Zeus der althellenischen Theogonie ein Erlöserknabe! Wir kennen diesen tiefen Sinn der vorderasiatischen Mythen, der immer wiederkehrt wie eine schwermütige Melodie. Das Symhol des Chronos war die Sichel. Dieser greise Schnitter mäht ein seltsames Korn, er mäht Äonen. Im Wahnsinn seines unendlichen Alters verspeist er die Geburt der Urmutter Rheia. Er verspeist sie noch heute. Vor diesem Elternpaar lebte Uranos und Gaia, Himmel und Erde. Gaia gebiert zu ihrem Entsetzen Titanen. Einer unter ihnen ist Chronos. Chronos entmannt den Vater Uranos, und dieser verflucht den Sohn. Er sagt ihm voraus, daß ihm das gleiche Schicksal von seinem Sohne widerfahren werde. Alles Männliche führt Krieg und mordet, alles Weibliche gebiert und nährt. Seit ewigen Zeiten, so besagt der Mythos, mordet der Sohn den Vater, der jüngere Bewerber den älteren, seit ewigen Zeiten schützt das Muttergeschlecht die heranwachsende Generation mit Hilfe der Amaltheia. Der Mutter Segen, müßte es wohl richtiger heißen, bauet den Kindern Häuser, aber des Vaters Fluch reißet sie nieder.

Eine lichte und eine finstere Kraft kämpfen miteinander im männlichen Denkgeist. Christus verkörpert die lichte, den zur Wiedervereinigung mit dem Göttlichen (der Mutter) zurückstrebenden Brudersohngatten. Ihm widerstreitet der naturhaft mörderische, antisoziale Kampfgeist der Ichdurchsetzung der männlichen Individualität. So streitet Osiris gegen Seth, so Chronos gegen Uranos, das bessere männliche Bewußtsein, die mystische Seele, gegen das schlechtere niedere Triebleben. Das Muttergeschlecht vollbringt, zwischen beiden wilden und feindlichen Mächten stehend, heimlich und mühsam seine Naturaufgaben. Und oft genug geht es schwanger von der Uranischen Angst und vom Chronischen Grauen.

4. MYSTERIENKULTE

Also will's der ewige Zeus:
Du mußt hinuntersteigen unter die blühende Erde,
Mußt die dunkle Persephoneia küssen,
Schöner Adonis.
Wenn im Lenz die Quellen rauschen,
Dann wieder aufwärts steigen wirst du, beweinter Jüngling,
küssest froh die goldene Aphrodite,
Schöner Adonis!

Das ist das Schicksal aller Erlöserknaben: Tod und Auferstehung, Untergang und Wiedergeburt, Herbst und Frühling. Auch die Natur feiert diesen Kreislauf zu Ehren des ewig Gekreuzigten, Begrabenen und Auferstandenen. Auch in der Natur ist Thamuz, Osiris, Christus und Baldur. Warum aber nennt man die Edelsten unter ihnen Erlöser? Sie alle erlösen ja nicht. Sie verkörpern das Werden und Vergehen der männlichen Geschlechtskraft am weiblich-mütterlichen Urwesen, ihr stetes Erlöschen und Wiederkehren im Schoss.

Ein wildes Tier zerreißt den Adonis, den Geliebten der Phönizischen Mutter. Nach Macrobius ist es ein Eber, nach den Libanonmonumenten, die oberhalb Biblos gefunden wurden, ein Bär. Der Winter tötet den Lenz, das Alter die Jugend. Die "Große Mutter" trauert in den Felsspalten um ihr Kind, die befruchtende Manneskraft, welche erloschen ist. Eines Tages gebiert sie den Geliebten wieder zur Frühlingszeit. Urvater Baal steht wie stets in diesen Urlegenden abseits hinter der Urmutter Baalat. Ebenso bei der "Syrischen Mutter", von der Lucian berichtet. Der Fluß ist gerötet von der Wunde des Adonis. Dies ist das Zeichen zur Landestrauer. Adonis wird feierlich begraben, aber schon am nächsten Tage wird seine Auferstehung gefeiert. Lucian berichtet, man habe ihm in Biblos im Tempel der "Mutter" Aphrodite gesagt, Adonis sei nichts anderes als Osiris. Er ist auch nichts anderes als Christus. Und seine Wunde, die der Eber ihm schlug, ist die Amfortaswunde, die am Karfreitag aufbricht und blutet. Eber und Bär sind Tiamat, Apophis, Gorgo, das finstere und böse Weltprinzip, das, neben dem lichten und guten, in der männlichen Naturpotenz zu leben scheint und den Geliebten der "Großen Mutter" tötet. Also will's der ewige Zeus. Goethe kommentiert diesen männlichen Zwei-Seelen-Gegensatz in der Faust- und Mephistophelesgestalt. Zwischen beiden steht Gretchen, das unschuldige Opfer des zeitweise zur Übermacht gelangenden niederen und satanischen männlichen Geschlechtsstrebens.

Die Adonis-Sage wird auch so erzählt: Myrrha gebar den Adonis von ihrem Vater, dem König Kinyras. Der Knabe war Jäger und Hirt, und seine Mutter warnte ihn vergeblich vor den wilden Tieren. Der Eber des Ares zwang ihn in die Unterwelt. Da flehte Myrrha klagend zum Zeus, und Zeus bestimmte, daß Adonis, dieser ionische Christus, den schöneren Teil des Jahres bei Aphrodite auf Erden, den schlechteren bei Persephoneia in der Unterwelt leben solle.

Auch dies ein Stück Logik des Vergänglich-Männlichen. Am Kuß der Persephoneia, der Göttin der Unterwelt, krankt der Brudersohngatte, jenes ausmerzbare Geschlecht, dessen biologische Reduktionsreihen wir verfolgten. Unter Perikles feierten die Frauen von Athen die Adonien zur Zeit der Sommersonnenwende, wo sich der Kreislauf der Natur vollendet. Lichter wurden angebrannt, und um eine Wachsfigur, den Adonis auf dem Totenlager darstellend, ein Adonisgärtchen gepflanzt, bestehend aus rasch blühenden und rasch wieder welkenden Kräutern. Bisweilen wurde auch der Phallus errichtet und im Adonisgärtchen umhergetragen, das männliche Christusgeheimnis noch deutlicher verkörpernd. Noch heute bauen die Kinder in südlichen Ländern zu Ostern ein "Sepulcro", so wie wir zu Weihnachten eine Krippe. Der geheime Ursinn aller Erlösungsmystik ist also der steigende und sinkende Phallus, der dem Muttergeschlecht Glück und. Tränen verursacht. Dieser Ursinn konnte im Dienste der höchsten Menschheitsideen weiter ausgebaut werden, wie das Christentum beweist. Er bleibt aber überall der gleiche, vom "brüllenden Weltstier" bis zum "Lamm Gottes, das der Welt Sünden trägt", von Ischtar bis zu Maria und "Herzeloide", der Mutter des Erlösers Parzival. Und er bleibt deshalb überall der gleiche, weil er biologische, d.h. ewige und überall geltende Lebens" wahrheiten vom Wesen und Verhältnis der Geschlechter zueinander verkündet.

Unendlich ist die Zahl der Variationen dieser Sage von der "Großen Mutter" und ihrem zwischen Tod und Leben hin und her gesandten Kinde, das "Erlöser" sein soll. Im westsemitischen Kulturgebiet, zu dem Phönizien gehört, hieß das Erlöserkind Hadad-Rimmon. Um ihn wurde alljährlich geklagt und gejubelt zu Aleppo unter dem assyrischen König Salmanassar II. Der karthagischen "Mutter" Tanit wurden Kinder geopfert, wahrscheinlich nur männliche. Als der Grieche Agathokles Karthago bedrohte, sollen sich 300 Männer freiwillig zum Opfertod durch Feuer gemeldet haben, um den Zorn der "Punischen Mutter" zu beschwichtigen und dadurch die Stadt vor dem Untergang zu retten. Sicherlich glaubten auch sie an die mystische Lebensgewinnung durch den Tod. Das Gefühl des Todgeweihtseins alles Männlichen im Vergleich zum Weiblichen schwingt im Nebel dieser Sage von der alles verschlingenden Tanit, von deren Kultbild man bei Ausgrabungen im 19. Jahrhundert noch einen vom Feuer zerschmolzenen ungeheuren Bronzeblock fand.

Auch in Eleusis, dem berühmtesten der altgriechischen Mysterienorte, wurde der sterbende und auferstehende Same gefeiert. Jakchos heißt hier der Brudersohngatte, der zu KorePersephoneia herabsteigt, der Tochter der "Großen Mutter" Demeter. Im Herbst fand hier das Hauptfest statt, ein Totenfest. Da ließ der Myste sich "weihen", d.h. er ahmte nach in heiligen Begehungen die Höllenfahrt und Auferstehung des Jakchos, um entsühnt zu werden und nach dem Tode das gleiche Los zu haben, die Himmelfahrt. Im Schoß des Weiblich-Mütterlichen geht das Männliche unter und steht in ihm wieder auf. Dieser Schoß des Muttergeschlechts ist Persephoneia und Aphrodite zugleich. "Und schon im Leben ist hochbeglückt, wen die beiden Göttinnen lieben." Wir wissen nur wenig vom Geheimkult dieser Mysterien, in welchen die antike biologische Wissenschaft praktisch und ethischreligiös gelebt wurde. Die "Eingeweihten" bewahrten unverbrüchliches Schweigen. Vermutlich aber wurden nur männliche Mysten geweiht. Nur männliche Mysten konnte es ja geben.

Im griechischen Kleinasien leidet, stirbt und aufersteht der Same Dionysos. Auch er wird symbolisch zerstückelt und begraben wie sein ägyptischer Bruder. Der Myste ahmt die Martern des Gottes ekstatisch nach, um das Leben zu gewinnen. Er tanzt berauscht um den Dionysosstier, dann steigt er geschmückt ins Grab, das zugeschüttet wird und über dem ein Stier oder Widder geschlachtet wird. Das Blut des Stieres rieselt durch ein Röhrensystem zu ihm hinunter ins Grab, überströmt ihn und erfüllt ihm Mund und Nase und alle Sinnesorgane. Wenn er wieder emporsteigt aus dem Grahe, ist er göttlich geworden. Nach 20 Jahren muß die grausige Weihung wiederholt werden. Im Sakrament des christlichen Abendmahls klingt sie nach. "Der mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben." Wie wenige Christen verstehen das! Und wie wenige wissen, daß das Christentum eine Soziosophie der Geschlechter darstellt!

In den ägyptisch gefärbten hellenistischen Isismysterien kehrt der Brudersohngatte Osiris-Horus in Gestalt des Hermes wieder. Von Hermes handelt das "Corpus Hermeticum", ein berühmtes Mysterienwerk. Und nach ihm werden alle Geheimschriften "hermetisch" genannt, und wir sprechen noch heute von einem hermetischen Verschluß. Im Hermesmysterium, von dem Apulejus im "Goldenen Esel" berichtet, empfängt der Myste die Isisweihen. In 12 Stunden der Nacht wird er durch die ganze Welt und durch die Hölle getragen. "Dann ist das alte Leben abgelaufen. Die Göttin (Isis) ruft von der Schwelle der Unterwelt den Würdigen und Verschwiegenen zurück und verpflanzt ihn in ein neues Leben des Heils."

"Komm in mich, Hermes," so ruft Isis, "komm in mich in den Mutterschoß. Du bist ich und ich bin du." - Auch der Christ zieht aus "den alten Adam". Und noch in Mozarts "Zauberflöte" besteht der Held die hermetische Höllenfahrt. Same ist Hermes, der dem Grabes- und Auferstehungsschoß der Isis gehört wie das Weizenkorn der Erde. So sagt auch Plutarch von Isis und Osiris: "Sie werden im Herzen des Mysten zusammengefügt." - Man kann sich keine großartigere Philosophie des Männlichen und Weiblichen denken, als wie sie niedergelegt erscheint in der bildergesättigten Pracht dieser uralten Sagen und Mythen.

Kybele. - Unter diesem Namen kam die "Große Mutter" unter Kaiser Claudius von Kleinasien nach Rom und wurde dort staatlich sanktioniert. Aus Phrygien und Lydien stammt ihr Kult. Das väterliche Prinzip fehlt hier völlig. Kybele ist die jungfräuliche Urweltköniginmutter, ihr Symbol die Mauerkrone. Zwei Löwen flankieren ihren Thron. Ihr ChristusGeliebter heißt Attis. Die Fichte und das Veilchen sind ihm heilig. Der fromme Hirte Attis - alle Erlöserknaben sind gute Hirten und weiden ihre Schafe - wird vom Sonnwendtier, einem wilden Eber, tödlich verwundet. Nach andern entmannt er sich selbst im erotischen Wahnsinn. Wieder andere sagen, Kybele selbst habe ihn im Liebesrausch mit ihren Löwen zerrissen. Nun trauert sie um den Toten wie alle Erlösermütter. Er liegt auf einem Teppich von Veilchen unter dem Fichtenbaum.

Die Attismysterien wurden im Frühjahr gefeiert. Eine Fichte wurde gefällt und mit Veilchen bekränzt, die Attistrauerlieder gesungen. Die Mysten umtanzten beim Schlag des Tympanon das Kultbild und besprengten es mit ihrem Blut, indem sie sich mit Messern verwundeten, ja in Ausnahmefällen wohl auch die Entmannung in verschiedenen Graden vollzogen. Um Mitternacht des dritten Tages beginnen die Freudenfeiern, die sogenannten Hilarien, das Osterfest des auferstandenen Christus-Attis. Der Priester setzt die zerstückelten Glieder des Kybelegeliebten wieder zusammen. Auch der Phallus wird gefunden. Die Mysten werden gesalbt, sie haben die Soteria gewonnen. Schärfer als in allen andern Mysterien tritt hier der Gedanke hervor, daß alle Erlösung Befreiung von der quälenden Sexualpein bedeutet, wie sie das männliche Geschlecht erfährt. Manche Geschichtsschreiber behaupten nun gedankenloserweise, auch Frauen seien bei den Attismysterien sterilisiert worden. Ganz abgesehen davon, daß nicht ersichtlich ist, auf welche Weise dies geschehen sein soll, es widerspricht auch dem inneren Sinn der Attismysterien wie aller Mysterien überhaupt, von weiblichen Mysten zu reden. Der Attismyste, der die Soteria erstrebt, ist immer männlich, er will erlöst sein gleichsam von der inneren Sekretion seiner Keimdrüsen. So sagt auch Jesus: "Ärgert dich ein Glied, so haue es ab und wirf es von dir!" Von der Hand oder dem Fuß kann dieses Wort nicht gesagt sein, wohl aber vom Phallus. In Rußland leben noch heute Attismysten. Es ist die Sekte der sogenannten Skopzen, d.h. Schöpse, Verschnittene, die das geschlechtliche Leben für das Urübel ansehen und sich entmannt haben, um erlöst zu sein und hinfort ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen. Nach Tolstoi, der in der "Kreuzersonate" die Psychologie der Skopzen geschrieben hat, soll es in Rußland zu seiner Zeit noch Hunderttausende solcher religiöser Kastraten gegeben haben. Irgendwie muß in dem von Thrakern bewohnten Südrußland die Tradition der Attismysterien vom Kybelekult her durch die Jahrtausende hin sich fortgeerbt haben. Denn auch die Gottesmutter lebt noch bei den Skopzen. Durch Ausgießung des Heiligen Geistes können unter den Frauen Gottesmütter erstehen, die als Wahrsagende verehrt werden und das heilige Kind gebären sollen.

Nach einer schon erwähnten Auslegung des den Attismysterien zugrunde liegenden Sexualgeheimnisses soll Kybele selbst den Attisknaben im Liebesrausch zerrissen haben. Nachdem er ihren Schoß mit dem Lebenswasser benetzt hat, benetzt sie seinen Leichnam mit ihren Tränen. Wäre dies an dem, dann läge im mystischen Attismorde die Erkenntnis, daß das Männliche nach vollzogenem Akt gleichsam lebensunwert geworden ist und durch das große Mütterliche, das Leben selbst, wieder vernichtet wird. Im Leben der Tiere findet sich manches Seitenstück zur Attislegende. So gibt es, wie wir sahen, gewisse Spinnenarten, bei denen das Weibchen größer und stärker ist als das Männchen. Nach vollzogener Begattung fällt es über das Männchen, das sich nicht rechtzeitig durch die Flucht in Sicherheit bringt, her, durchbohrt es mit seinen pfriemenartigen Kiefern und verspeist es bis auf die ungenießbare Chitinhülse. Auch im Bienenstaat wird Kybele verehrt. Die Königin, sobald sie Mutter geworden, zerreißt ihren Brudersohngatten in der Luft oder, nach neuesten Forschungen, am Boden, auf den sie, ermüdet durch die zu tragende doppelte Körperlast, herabsinkt. Und die Arbeitsbienen folgen, den Korybanten gleich, der Göttin und vernichten in einem Zustand von Raserei alles, was Drohn ist, sobald die Mutter mit der Eierlage begonnen hat. Wie verfolgt und verfehmt ist doch das Männliche in der Natur, wie karg bemessen ist seine Lebenslinie! Selbst der Jäger schont es nur wenige Monate im Jahr. Der Kreuzspinne dient es zur Speise für die Nachkommenschaft. Die Leiche des Drohns aber düngt Gräser und Blumen wie das Blut des Attis den Teppich von Veilchen, und niemand ist, der um ihn weint. Das Leben summt, das Tympanon rasselt. Die Natur trauert nicht. Nur der Mensch singt Attisklagelieder.

Es fehlt nicht an weiteren Belegen, etwa aus den kleinasiatisch-hellenistischen Mithrasmysterien. Die persischen Eroberer brachten ihre Anahita, die persische "Mutter", mit nach Kleinasien, und ihre Priester machten sie dort der phrygischen Mutter Kybele ähnlich, ebenso den iranischen Erlöserknaben Mithras dem phrygischen Attis. Es ist einwandfrei überliefert, daß die Mithrasmysten nur Männer sein durften. Die Frauen vereinigten sich in Kybelegemeinden. Ums Jahr 100 vor Christi Geburt kamen die Mithrazeen nach Rom, wo die Allmutter Kybele verehrt wurde. In der Nähe ihrer Tempel baute man die Mithrashöhlen, in denen der Novize, der umgeboren werden sollte, geweiht wurde. Dort stand die "Leiter aus sieben Metallen", die sieben Grade des Aufstiegs und der Läuterung der Seele während der Himmelsreise darstellend. Dort stand auch der Gott Mithras, auf einem Stier reitend, an dessen Hoden eine Schlange nagte. Welch finstres Symbol von erschreckender Deutlichkeit! Erlösung von der Schlange des männlichen Sexualbegehrens ist der Sinn der Mithras- mysterien, die im Jahr 307 nach Christi Geburt von Diokletian in Rom staatlich sanktioniert wurden. Helios Mithras, der Staats- und Erlösergott von Rom an Stelle von Christus! Und an den Hoden des Gekrönten nagt die Schlange!

Schon kam die letzte Zeit nach der Sibylle Sang,
Ein großer Zeitenring beginnt nun seinen· Gang
Asträa kehrt zurück, neu herrscht Saturn gerecht,
Vom hohen Himmel steigt herab ein neu Geschlecht
Lucina, keusche, sei nur hold dem süßen Knaben,
Der jetzt geboren wird. Eiserne Zeiten haben
Erst unter ihm ihr End. Er führt uns friedevoll
Die goldne Zeit zurück - -

Vergil in der vierten Ekloge, wenn er den Christusknaben begrüßt. In Asträa, der Sternenjungfrau, lebt Ischtar-Madonna fort. Wirkliche und natürliche Erlösung - das scheinen alle diese Erlösungslehren zu verkünden - findet der männliche Geist nicht bei sich selbst. Das Mütterliche ist in all diesen Lehren der eigentliche "Erlöser" gewesen und auch immer mit der männlichen Erlösergestalt nahe verbunden, sie nicht selten an Glanz überstrahlend. Priesterlogik hat diesen natürlichen und biologischen Sachverhalt allmählich verdunkelt, ja ins Gegenteil verkehrt, die "Große Mutter" vom hohen Stuhl der Erlösung verdrängt und das Männliche an seine Stelle gesetzt, das nicht stehen kann vor Schmerz. Um das Widersinnige des Gedankens, daß der tragische Mann Erlöser sein soll, zu verdecken, nahm man ihm seine Reckenhaftigkeit und wuchtige Männlichkeit, indem man ihn zum Hirtenknaben, zum "reinen Tor", ja zum Kinde und Bambino herabminderte. Nur so scheint der Mann als Erlöser erträglich. Ein Kind aber ist für sich nichts, es bedarf der Mutter, um zu leben, und ist in Wahrheit noch ein Stück Mutter. Die Mutter stieg also wieder auf den Thron, wie man an der gotischen Madonna des Raffaelischen Zeitalters beobachten kann. Ein glücklicherer Genius der Menschheit erwachte im mystischen Goldglanz des späteren Mittelalters. Und es zeigte sich, daß der Muttergedanke unauslöschlich ist und sich auf die Dauer aus den Religionen nicht verdrängen läßt. Alle Urreligion ist nach ihm gebaut, wie Bachofen zuerst gesehen hat, und alle soziale Ordnung der menschlichen Gesellschaft sollte es auch sein, ohne daß deshalb der männliche Geist an seinem spezifischen und unersetzlichen Wert etwas zu verlieren brauchte. Denn der männliche Geist als solcher regiert ganz bestimmt nicht die Welt, sondern der Mutterkindgedanke, jene "Pforte der Geburten", durch die das Männliche, oft nur als "ein trüber Gast auf der dunklen Erde", aus- und eingeht und die der leidende indische Heiland (Buddha) vergebens wieder zu schließen versucht, um seine Qualen zu endigen, wohl wissend, daß dort, im Muttergeist und Muttergeschlecht, der Weltgrund brennt, nicht aber im fernen Bewußtseinsreflex des männlichen Intellekts, der nur eine gespiegelte, in Wahrheit nicht seiende, majaisierte Welt zeigt. Die modernen Pessimisten machten irrtümlicherweise den niederen und satansverwandten männlichen Sexualwillen zum Weltenkern, statt den hellen, guten, sophiahaften und christusgepaarten weiblichen Geburts- und Mutterwillen. Ein drastisches Beispiel für die Art, wie bisheriges Welterklären an der Wahrheit vorüberging und notwendig vorübergehen mußte. Die Pforte der Geburten vielmehr ewig offen zu halten, ist der mütterliche Sinn des Weltendranges.

Möge doch die Erkenntnis wieder wachsen, die allein allen Pessimismus überwindet, daß die Pforte der Geburten nichts Leidvolles und Verdammtes ist, außer wenn wir sie dazu erniedrigen, und nicht geschlossen zu werden verdient mit künstlichen Doktrinen, sondern daß sie eine "felix porta coeli" ist, durch die die höhere Art Mensch schreiten soll, vielleicht dereinst der Gottmensch.

5. DAS MUTTERKINDSYMBOL

Das Mittelalter kannte nur die christliche Erlösungslehre. Alle Erlösungslehren und Erlösererwartungen aller Zeiten und Völker sind aber von gleichem Geist und von gleicher Struktur, mit den gleichen Motiven geschmückt. Und doch beruht meist nicht die eine auf der andern. Unabhängig voneinander, an den verschiedensten Orten sprossen sie aus dem Herzen der Völker. Warum? Weil unvergängliche Naturwahrheiten in ihnen symbolisiert sind. Diese Wahrheiten sind in der ganzen Welt die gleichen, so verschieden auch die Kulturen in den einzelnen Ländern sich gestalten. An die Mutter und das Kind klammert sich alle Erlösererwartung , alle Hoffnung der Völker, der Gesang der Engel: Und Friede auf Erden! - An den Kreuzbalken von Golgatha klammert sich nur das Wissen vom Tode, Sündenjammer und Elendsgefühl, aus dem nichts Wertvolles und Großes erwachsen kann. Der zum Manne gereifte "Erlöser", der am blutigen Streckholz hängt, hat noch niemanden erlöst. Er zeigt uns nur, daß wir leiden. Das Kind in der Krippe ist der wahre Heiland. Es lächelt, und der Glanz seiner tiefen Augen erleuchtet die Hütte. Es ist in Wahrheit der Glanz des Muttergedankens, der Befreiung der Welt vom Samengeist, der die reine, selige Natur unselig, weil wissend gemacht hat. Denn Kind und Mutter sind eins. Selig ist die Mutter, und solange das Kind ein Stück Mutter ist, ist auch das Kind selig und verkündet seine Seligkeit jedem, der es anschaut. Erst wenn es zum Manne gereift ist, spricht es jenes seltsame Unglückswort, das Jesus zu Kapernaum zu seiner Mutter sagte: "Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!" Der reife männliche Geist hat sich losgelöst von der Mutter und vom Naturgrund und formt die Welt nach seinem Bilde. Damit tritt er ein in den Garten Gethsemane, und die Dornenkrone beginnt ihm an den Schläfen zu wachsen. Bis zu der Stunde, wo er in tiefster Not am Kreuze flüstert: Lama asaphthani! Warum hast du mich verlassen? Warum ging ich so weit fort von dir? Warum riß ich mich los vom Mutterschoße Natur?

So die ganze Menschheit, die auch am Streckholz zu hängen scheint. So auch Buddha, dessen Mutter 7 Tage nach seiner Geburt gestorben war. Heimatlos, d. h. mutterlos zog der Bodhisattva in die Wüste, um zu fasten. Dadurch glaubte "der Erleuchtete", die Welt zu erlösen. Als er aber dem Hungertode nahe war, besuchte ihn seine unsterbliche Mutter vom Himmel her und nährte ihn mit ihrer Milch. So entrann er dem Untergang. Der erwachsene Christus ist mutterloser Geist. Ganz natürlich, daß er verhungert und verschmachtet und im Nirwana verweht. Oder daß er aus der Speerwunde blutet oder sich schließlich in eine Mumie verwandelt wie Osiris. Das Kind Christus dagegen ist noch ein Stück lächelnde Mutter, selige Mutter. Daher der Glanz auf seinem Haupt. Eines Tages wird die Menschheit zum Mutterwesen zurückkehren, der zugleich der Naturgeist ist. Sie muß es, wenn sie nicht verschmachten will wie der Hungerkünstler Buddha in der Wüste. Es ist, als hätte Jesus das Schicksal geahnt, das der Cruzifixus der Menschheit bringt. Denn nach Lucas 23 wandte er sich, am Kreuze hängend, an die Weiber und sprach: "Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch und eure Kinder. Denn siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren, und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben. Dann werden sie anfangen, zu sagen zu den Bergen: Fallet über uns, und zu den Hügeln: Decket uns!" Diese Zeiten scheinen heute gekommen, malthusianische Zeiten, Weltkriegszeiten, Fluchzeiten. Welche Mutter wird noch gebären wollen, solange der Gegenchristus die Welt regiert? Fallet über uns, ihr Berge, ihr Hügel, decket uns!

Höchste Herrscherin der Welt,
Lasse mich im blauen,
Ausgespannten Himmelszelt
Dein Geheimnis schauen!

Die liebste und behaglichste Lage der Kinder beim Schlaf ist die mit bis ans Kinn herangezogenen Beinen. So, mit gekrümmtem Rückgrat, liegen wir als Embryo im Mutterleib. In dieser Lage begraben manche Naturvölker in Afrika ihre Toten, die in das Dunkel des Mutterleibes zurückkehren. Aus der Mutter kommen wir, in die Mutter gehen wir zurück. So auch die Welt, sie ist ein Kind und hat eine Mutter wie alles Seiende. Mutter ist das, was wir in der Philosophie Substanz, Absolutes oder natura naturans nennen. Wären die Philosophen nicht gewohnt, ihr hochentwickeltes Geisteswesen als Maßstab aller Dinge zu erleben und anzulegen, die Mutter wäre die allgemeine metaphysische Weltdeutungsformel geworden, weil sie die natürliche ist. Lieber gebrauchen wir aber, um nicht Mutterschoß, Urmütterliches, matrix aeterna usw. sagen zu müssen, entweder farblose Abstrakta, mit denen unser Denken so gern spielt, wie Substanz, Absolutes, Identität, das Eine, das Unendliche, "das Leben selbst", oder Bilder und Gleichnisse, die wir aber auch von unserm oft weltgrundfernen Geistesleben ablesen, wie z. B. Idee, oft indessen auch von unserm Triebleben, wie z. B. Wille. Keiner dieser Begriffe deutet wirklich das Welt- und Lebensgeheimnis, alle gehen am Sinn des Lebens vorüber. Dieser heißt: Mütterlichkeit, ewige Rückkehr des Lebens zur Keimform. Deshalb steigt Faust zu den "Müttern" herab, wie der einzige Goethe die Platonische "Idee" richtig übersetzt. Denn sie ist tatsächlich eine "Mutter", eine Matrix, Matrize, Mater, das eine mütterliche Urbild ihrer vielen Kinder, der Abbilder im gestalteten Ding, wie die Terminologie des Druckergewerbes den Philosophen richtig belehrt. Deshalb wendet sich unser Lehrmeister Goethe, nachdem er im Faust die ganze Welt abgeleuchtet hat, in der Schlußapotheose dieses gewaltigsten aller philosophischen Werke der Menschheit zum Mutterprinzip, wie es der Volksglaube des Mittelalters in der Mariengestalt am reinsten und lieblichsten offenbart hat. "Auf dem Angesicht anbetend", "in der höchsten, reinlichsten Zelle", bekennt Goethe, der Protestant und Naturforscher, als Dr. Marianus seinen marianischen Glauben an das "Ewig-Weibliche, das uns hinan zieht" .

Wahrhaftig: einem ewig wogenden, ewig gebärenden Schoße entstieg diese Welt der Bilder und Gestalten, einer unvergänglichen Matrix, die vielleicht der forschende Menschengeist eines Tages in einem der 92 Grundelemente in ihrem äußeren Wesen nachweisen wird. Gibt es ein wahreres, höheres, sinnvolleres metaphysisches Symbol als die Mutter mit dem Kinde? Der Symbolzwang unseres Denkens hat uns alle irdischen Lebensverhältnisse nach Formeln absuchen lassen, unter denen wir den Weltgrund begreifen, den Weltsinn uns nahebringen könnten. Auf das Muttersymbol sind, außer Paracelsus, die Metaphysiker noch nicht verfallen. Lieber lassen sie, wenn es sein muß, den Vater gebären, wie in der scholastischen Trinitätsphilosophie, um dem Muttergeist auch nicht die mindeste Ehre zu erweisen. Oder sie sagen mit Plotin, die Welt "emaniere" aus dem Einen. Emanieren heißt herausfließen, also Geborenwerden. Zu einem farblosen Verstandesbegriff verwandelt der männliche Erkenntnisgeist das natürliche und lebendige Bild. Oder sie sagen "Causa prima" vom Weltgrund, indem sie die Kausalitätskategorie der ursprünglich männlichen Verstandesenergie hypostasieren. Oder mit Aristoteles "actus purus" und "Urbeweger", als hätte die männliche Geistaktivität die Welt zu bewegen angefangen, hierbei

ihr als Ideal vorschwebend, nicht aber die Platonische Anangke, die ewige Notwendigkeit des gebärenden Urmutterschoßes (Staat, 10. Buch). Dabei ist der Lebendigmacher, der männliche Samenstoff und Samengeist, gleichsam nur eine späte Nachgeburt der Ewigen Mutter, die erst in der organischen Tier- und Pflanzenwelt erscheint, also im dreizehnten Weltäon, mythisch gesprochen. Als noch kein Same wehte, um zu zeugen, gebar schon das ewig-weibliche Ur.

Bei Aristoteles aber bewegt der sich selbst denkende männliche Geist den Sphairos, so wie das Saatkorn die Materie und wie der männliche Same das Monatliche. Letzteres, nämlich das Weibliche (Met. XII, 6), wird also mit dem Erdigen gleichgesetzt, welches sich selbst nicht bewegen kann, an einer anderen Stelle (Phys. 192) sogar mit dem Häßlichen, während das Männliche das Schöne ist. Selbstverständlich sind bei Aristoteles (Met. I,6) auch die "Ideen" des Platon männliche Samenwesen.

Bei Aristoteles ist also die Welt weiblich geschaut, Gott aber männlich. Und das Wesen des Männlichen ist bezeichnenderweise das Sich-Selbst-Denken.

Morphologisch betrachtet ist, wie wir sahen, das Weibliche primär, das Männliche aber gleichsam ein losgetrenntes Glied des Urwesens, das von der Natur hauptsächlich deshalb relativ selbständig gemacht wurde, damit es den Samen umherträgt im Lande und die Art verbreitet, vor Inzucht bewahrt und verbessert. Ähnlich wie die Natur dem Samenkorn mancher Bäume einen Aeroplan anheftete, damit es im Winde segelt nach fernen Ländern. Und so beim Menschen nicht anders als in der ganzen Natur. Also zur Verbesserung der Art Mensch ist das männliche Geschlecht als gesondertes Wesen da, nicht aber zur Verschlechterung der Art. Er hat sich aber emanzipiert vom Naturgesetz und die soziale Welt nach seinem Sonderwillen gegründet, der nicht eins ist mit dem Urwillen der Art.

6. DAS ABENDLAND AM SCHEIDEWEGE

In seinen Göttern malt sich der Mensch. Entweder nach dem Bilde des männlichen Denkgeistes oder nach dem des weiblichen Mutterwesens konnte die abendländische Menschheit ihre für lange Jahrtausende höchste Idee, die Gottesidee, bilden. Vor der christlichen Zeitrechnung hatte sie hierzu beide Möglichkeiten. Und die angeführten Geschichtstatsachen beweisen, daß sie auch auf beiden Wegen Jahrhunderte hindurch gegangen ist. Ja, noch mehr. Es war einmal eine Zeit in der Vorantike, wo ihre Geneigtheit, die Gottesidee weiblich-mütterlich zu bilden, größer war als das Gegenteil. Der Reichtum der Bilder und Gestalten, die sie für die Weltmutter fand, beweist dies, ferner die Macht des Schicksalsgedankens in jener vorintellektualistischen Zeit, in der der männliche Denkgeist seine Emanzipation vom Mutterwesen noch nicht vollzogen hatte, seiner schöpferischen Freiheit noch nicht bewußt geworden war, dem Eindruck der Notwendigkeit alles Geschehens noch ehrfürchtig, ja angsterfüllt staunend unterlag. In dieser Atmosphäre der Isiszeit war die so natürliche Deutung des Weltgeheimnisses als eines gebärenden Mutterschoßes möglich und selbstverständlich. Diese Deutung ist ihrer Form nach monistisch und trägt biologisch der Tatsache Rechnung, daß der dem männlichen Sexualgeist entsprungene Denkgeist kein Prinzipatum, kein Weltursprüngliches ist und niemals war, sondern eine späte Erscheinungsform der organischen Welt, mithin auch keine Aitia und Arche der Kinesis und Genesis des Welt- seienden wie doch die Rückkehr des Lebens zur Keimform im Mutterschoße, welche immerseiend, äonenhaft besteht und längst bestand, bevor der männliche Geist am Weltmutterwesen erwachte, emporwuchs, sich verselbständigte und schließlich - den Muttergeist verdrängte und unterdrückte.

Dieses bedeutsame geschichtliche Ereignis vollzog sich in der abendländischen Kultur ungefähr ums Jahr 500 vor Christi im klassischen Athen. Die großen Tragödiendichter, vor allem der frauenfeindliche Euripides, aber auch der Geschichtsschreiber Thucydides, ebenfalls ein leidenschaftlicher Frauenhasser, sind hierfür Beleg. Von den beiden großen Philosophen der Sokratischen Schule, an deren Schöpfungen man die Katastrophe des Muttergeistes am unmittelbarsten studieren kann, ist Platon der konservativere und schwankendere, dem Muttergeist unzweifelhaft noch nahestehende, Aristoteles aber der fortschrittliche und der eigentliche Begründer der Hochkultur des emanzipierten männlichen Denkgeistes, was unter anderm auch bewiesen wird durch die Machtstellung des Aristoteles in der christlichen Denkwelt und seine Renaissance in der Scholastik. In den beiden Hauptsätzen des Aristoteles: "Gott, d.h. das erste Seiende (Ousia prote), ist das Denken seiner Selbst" und: "Gott denkt, indem er sich selbst denkt, zugleich die Welt", ist die Gottesidee, die Schlüsselidee für zwei Jahrtausende abendländischer Geistesgeschichte, restlos andromorph, d.h. einseitig männlich gebildet, während nach allem in diesem Buch bisher Dargelegten die entgegengesetzte, die restlos weiblich-mütterliche Bildung der Gottesidee, nicht als einseitig, sondern als im Zusammenhang mit allen Naturtatsachen und Naturwahrheiten stehend gelten muß. Mit dieser Ablesung der aristotelischen Gottesidee von der Art und dem Wesen der männlichen Ratio, seinem Seinsgefühl und seiner Erlebnisweise, ist zugleich der große dualistische Bruch in der Gott-Welt-Vorstellung gegeben, den erst Meister Eckhart und die Pantheisten der Spätrenaissance wieder überwanden. Die Weltverdammung folgt hieraus und die Verschüttung der antiken Naturwissenschaft, die erst im Naturalismus der Paracelsuszeit wieder auferstand. Aus dem muttergeistfeindlichen Aristotelismus, in dem eine rein geistige "Energeia" (actus purus im Mittelalter) als Urbeweger (proton kinoun) auftritt, eine für unser Betrachten sehr anfechtbare, unlogische und unbiologische Idee, floß ferner die Degradierung der vor antiken Himmelskönigin und Allmutter zu einer mitleidig geduldeten Menschenfrau Maria, deren Heilandsmuttertum mit schwierigen Philosophemen und Dogmen erklärt werden mußte, während im innergöttlichen trinitarischen Prozeß drei Männer miteinander die Weltgeburt bewirken, Gottvater, Gottsohn und Gott-Heiliger-Geist. Die fernere Folge dieser grotesken und weltsinnwidrigen Bildung der Gottesidee im Aristotelismus, die ja nur Symbol ist für die ganze in ihr gipfelnde Geisteskultur, war der Zusammenbruch der Antike und die gänzliche Totheit und Erstarrung der Menschheit für mehr als ein Jahrtausend. Erst als im paramirischen Naturalismus der Renaissance der Muttergeist wieder erwachte, entstand auch wieder wahre Wissenschaft, nämlich Naturwissenschaft. Vorher, von Augustin bis Thomas und darüber hinaus, verharrt das geistige Europa im Zustand der Brachzeit und Winterstarre, hervorgerufen durch die Katastrophe, welche der männliche Geist dem weiblichen Mutterwesen auf der Höhe der Antike bereitet hatte.

Daß diese Katastrophe, von der wir im folgenden Kapitel noch näher handeln müssen, nötig und unvermeidlich war, wird niemand behaupten, der unserer bisherigen Beweisführung aufmerksam gefolgt ist. Die Primordialursachen liegen nicht im Geist. Es gibt überhaupt keine präkosmische Geistenergie, und es bedeutet eine kühne und ganz unberechtigte Überheblichkeit des männlichen Denkgeistes, wenn er eine späte Blüte der organischen Natur, den an ein Nervensystem gebundenen Bewußtseinsreflex, den wir Geist nennen, zum Urbild der Gottesidee macht, also das Flüchtigste und Vergänglichste, was es im gesamten Welt zusammenhang gibt, zum Urgrund alles Seienden, zum "unbewegten Beweger der Welt" erhebt. Durchaus nicht selbstverständlich will es uns erscheinen, daß die abendländische Geistesgeschichte in diese von uns als seltsam und abenteuerlich empfundene, extrem andromorphe Kurve einbog, nachdem in der Vorantike der Weg zu einer natürlichen Bildung der Gottesidee bereits eingeschlagen worden war, und nachdem noch im Zeitalter der Gnosis es keineswegs ausgemacht war, für welche der beiden Deutungsmöglichkeiten des Weltgrundes in der Gottesidee, die männlich-dualistisch-intellektualistische oder die weiblich-monistisch-naturalistische, sich die abendländische Menschheit entscheiden würde. Sie hat sich für die ganz einseitige Maskulinisierung des Weltgrundes entschieden, was eine Erstarrung der Menschheitskultur am Erkenntnisgeist bedeutet, die erst zu schwinden begann in jener Zeit, als der italienische Pantheist Julius Caesar Vanini (1616) sein Buch "De admirandis naturae reginae deaeque mortalium arcanis" schrieb. Vor diesem Geburtsjahr der modernen Gott-Natur-Idee bestand Wissenschaft in einer ziemlich wertlosen Quästionenmacherei des Geistes mit sich selbst, der sich ganz zu Unrecht als Origo rerum fühlt, während doch seine Schönheit, Größe und mit dem Meister zu reden - Edelkeit in seiner Spätreife am Weltgewachsenen besteht.

Paracelsus sagt, das Weib sei ganz Matrix, wie die Welt. Mit demselben Recht kann man sagen, der Mann sei ganz Limbus, ewig strebendes, suchendes, forschendes Samentierchen, das danach verlangt, sich in die Eizelle einzubohren, sich wieder zu vereinigen mit dem Weltmutterschoß, darin aufzugehen und im neuen Wesen mitzuschwellen, ohne noch länger für sich allein sein heimatfernes Schweifsterndasein zu führen. Scheint nicht der übermächtige Erkenntnistrieb des männlichen Geistes aus dem frühesten Kindheitsstadium des embryonalen Wesens zu stammen, da dessen eine Hälfte noch für sich, unzurückgenommen, im Wettkampf mit Millionen von Rivalen, sein Haupt hastig vorwärts schlängelte durch den warmen Flimmerstrom der Gebärmutterschleimhäute, um zuerst anzukommen und nicht liegen zubleiben vor der Pforte der Geburten, die sich hinter dem Sieger rasch und für immer schließt? - Furchtbare Natur!! Wer nur ein wenig zu spät kommt, muß sterben und erstarren wie der auf sich selbst blickende Denkgeist. Und Millionen solcher Samentierchen kommen nur ein wenig zu spät. Ihre Mutterschoßsehnsucht war nicht groß und gewaltig genug, sonst wären sie Sieger geblieben in diesem Wettlauf nach der Auferstehung und Unsterblichkeit, der einzigen wirklichen, die es für viele Millionen dieser winzigen Heilande und Erlöser gibt.

Was also ist im Grunde jedes Lebendige? - Weiblicher Mutterschoß umschwirrt von Samentierchen wie die Sonne von Planeten und Kometen.

Aber der Komet ist nicht die Sonne. Eine unbestimmt forschende Kraft treibt ihn hinaus in die leeren Räume. Plötzlich aber wendet er, der Stimme Gottes gehorchend, und jagt zurück in sein Perihel. Weltenangst donnert in ihm, Eiseskälte schreckt ihn, daß er heimwärtsstrebt zum heißen Muttergestirn. So kreisen die negativ geladenen männlichen Elektronen um den positiv geladenen weiblichen Atomkern, ihr Ewig-Mütterliches. So treibt Osiris hinunter auf den Fluten des heiligen Nil. Aber Gottmutter Isis findet ihr Kind im fernen Lande und nimmt es wieder zu sich. Sonne, Atom und Isis, die dunkle Mutter, sie alle ruhen in sich, und um sie kreist ihr losgerissenes Glied.

Wie aber, wenn im Sonnensystem Jupiter die Umlaufsgesetze diktierte statt der Sonne? Oder der finstre, tückische Saturn? - Weltkatastrophen würden eintreten.

In der Menschheitsgeschichte hat sich, wie es scheint, dieser Fall ereignet. Der Trabant hat sich zum Alleinherrscher aufgeworfen über den Mutterstern, von dem er Licht und Kraft empfängt. Daher denn auch die blutgetränkte Serie von Katastrophen, die wir Weltgeschichte nennen.

Und: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.

7. DIE TRAGÖDIE DES MUTTERGEISTES IN DER ANTIKE

Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu:
"Laßt nicht den Muttermörder entfliehn!"
Orest

Seit Bachofen wissen wir, daß das Mutterrecht in der Geschichte Jahrtausende bestanden hat, und zwar nicht als flüchtige Laune der Natur und bei vereinzelten Völkern, sondern bei sehr vielen Völkern und als anscheinend notwendige Durchgangsstufe der gesellschaftlichen Kultur. Nur auf dem Wege über die Gynäkokratie war es der Urmenschheit, wie es scheint, möglich, zu Kultur und Sitte zu gelangen. Vor allem bei den antiken Kulturvölkern ist die Staatsidee am Muttergeist und an der Idee des Mutterrechts erwacht, wie aus zahlreichen Überlieferungen, sowie vor allem aus der mythischen Tradition und den religiösen Ursitten und Urgebräuchen wissenschaftlich nachgewiesen werden kann. Ganz natürlich: Mutter und Kind umfing ein unzerreißbares soziales Band, der Vater des Kindes dagegen war meist unbekannt. Die mütterliche Frau war es, die, ihrer Naturbestimmung entsprechend, Haus und Ackergrund und Seßhaftigkeit suchte, um in Ruhe ihre Kinder gebären und großziehen zu können. Der Mann dagegen schweifte umher, ruhelos getrieben vom nomadischen Erkenntnistrieb. In den Urgeschichten aller Völker erscheinen daher Weiber als Städtegründerinnen, Weiber, die die Schiffe der Männer verbrennen, damit das ewige Wandern endlich ein Ende habe. Demeter, die Gottheit der Seßhaftwerdung, ist mit tiefem Sinne eine weibliche Gottheit.

Der Vorwelt silberne Gestalten steigen auf, hohe mütterliche Frauen, unter deren Führung die Menschheit zu Kultur und Sitte erwachte. Göttinnen haben den "Menschen" gegründet, den Wilden hereingerufen, den Troglodyten aus der Höhle, den Nomaden von der Steppe, haben die erste Mauer gezogen, das erste Korn gesät, den ersten Herd gebaut, die erste Ehe geschlossen. Das Matriarchat war die Urform der menschlichen Gesellschaft. Matriarchen, nicht Patriarchen stehen am Anfang der Sozialgeschichte. Frauen opferten, Frauen entschieden über Krieg und Frieden. Nach der Mutter nannten sich die Kinder. Die Mütter hatten den Besitz, das Töchtererbrecht galt, der Sohn erbte nur Schild und Schwert, um hinauszuziehen und sein Glück zu machen. Nach den mütterlichen Ahnen waren die Genealogien gebaut, die sogenannte "Mutterfolge" galt. Kollegien von Müttern regierten den Staat. Die Gottheiten waren Mütter, das Opfer der Frau heiliger und Gott wohlgefälliger als das des Mannes. So in der vorhellenischen Urzeit an der Schwelle von Asien und Europa, wo die abendländische Kulturmenschheit geboren wurde, so in Ägypten, bei den Pelasgern und Etruskern, diesen Urbewohnern von Griechenland und Italien, im vorderasiatischen Lykien, an den blauen Golfen des Mittelmeeres, aus dessen Schaum die Göttin der Liebe und Schönheit emporstieg, Aphrodite. Damals siegte der zur Gründung und Fixierung der Lebensverhältnisse drängende Seßhaftigkeits- und Ordnungswille der Frau über den ruhelos spürenden Such- und Wandertrieb des Mannes, welcher von Natur lediglich als erweckendes Prinzip erschien, als Same, den der Wind herbeiträgt und wieder verweht. Während das empfangende und gebärende Weib der Furche glich, dem Ackergrund, dem tellurischen, chthonischen Prinzip. In jener frühesten Schicksalstunde der menschlichen Gesellschaft war es die Frau und Mutter, die, dem Wink der Demeter gehorchend, Besitz nahm, Korn säte, siedelte, betete und gebar und die Männer schweifen ließ, wohin ihr unruhig begehrender Instinkt sie trieb. Sie kamen wieder und gingen wieder, schwärmten umher von Siedlung zu Siedlung, wo die Mütter saßen, und ließen ihren Samen in die Furche fallen. Der Same ging auf, der Säemann war längst fortgezogen. Das Kind wuchs heran, nach dem Mutterrecht, denn ein anderes gab es nicht. Es kannte und liebte seine Gebärerin und Pflegerin, es kannte die Ackerfurche, aus der es entsprossen, das Haus und den Hain, in dem es seine ersten Schritte getan. Wer aber unter den fremden Männern war sein Vater, die von Zeit zu Zeit auf wilden Rossen vorüberstürmten? Das wußte es nicht und erfuhr es auch nie oder nur selten. "Mater semper certa, pater semper incertus", sagt noch das römische Recht. Der Vater ist prinzipiell unbekannt. So entstand die griechische "Polis", vom weiblichen Muttergeist gegründet und beherrscht, so die römische" Urbs". Später kamen die Männer und stürzten die städtegründende Mutter von ihrem Thron. Des Wanderns müde bemächtigten sie sich des Werkes und der sozialen Ideenwelt der Frau. Apollo verdrängte Demeter, aus der "Urbs" erwuchs das "Imperium". Der männliche Geist fügte die Wissenschaft hinzu. Er schrieb Geschichte und verschwieg, daß die erste entscheidende Kulturtat der Menschheit den Händen und der Seele der Frau und Mutter entflossen war. So ist es gekommen, daß die Tatsache des gynäkokratischen Urstaates lange Jahrhunderte so wenig bekannt, so vergessenund versunken war, bis sie von dem genialen Bachofen, der gleichwohl sich zum sogenannten "Vaterrecht" bekannte, um die Mitte des 19. Jahrhunderts wieder ans Licht gezogen wurde. Wir aber müssen uns dieser kulturgeschichtlichen Tatsache wieder bewußt werden. Was der Muttergeist einmal gekonnt, kann er vielleicht auch ein zweites Mal, wenn auch unter den völlig veränderten Verhältnissen der Gegenwart, nämlich entscheidenden Einfluß gewinnen auf die Gesellschaftsordnung.

Der Geist der matriarchalischen Weltanschauung und Gesellschaftsordnung der Vorantike läßt sich aus zahlreichen Einzelüberlieferungen wiedererkennen und rekonstruieren. Er zeigt höchste Einheit und Geschlossenheit, sozialpolitisch wie religiös. Herodot berichtet, daß die Lykier ihre Kinder nach der Mutter benannten, in allen genealogischen Angaben wird nur die mütterliche Ahnenreihe genannt. Nicolaus von Damascenus berichtet; daß bei den Lykiern das Erbrecht der Töchter geherrscht habe. Strabo berichtet von der Elokation und Dotierung der Brüder durch die Schwestern. Bei Polybius finden sich Nachrichten über die Adelshäuser der epizephyrisehen Lokrer, die nach der Mutteranalogie gebaut waren. Aus andern Notizen und Geschichtsschreibern läßt sich nachweisen, daß das Mutterrecht auf Kreta, Lesbos und Lemnos geherrscht habe, ferner in Elis und Mantineia, bei den Lokrern und Kantabrern, den Lalagern, Karern, Arkadern, Pelasgern, Epeiern und andern Ureinwohnern des klassischen Kulturbodens der Griechen. Die Hellenen erst stießen das Mutterrecht um, Herakles bekämpfte es, ebenso Dionysos, Perseus, Achill, Theseus, und setzten das Paternitätssystem an seine Stelle. Dennoch wirkt das Prinzipat des Muttergeistes im Hellenismus nach, wie sich aus den vielen weiblichen Göttergestalten ergibt, die den Olymp bevölkern, sowie aus zahlreichen, uns erhaltenen Mythen, wie z.B. dem Mythus von Bellerophon, dem "Begründer" des lykischen Mutterrechts. Plutarch erzählt seine Geschichte. Bellerophon hatte die Feinde Lykiens vernichtet. Jobates aber, der König Lykiens, betrog ihn um seinen Lohn. Da betete Bellerophon zu Poseidon um Rache. Poseidon erhob sich und überschwemmte und verwüstete das Land. Die Lykier flehten zu Bellerophon, er möchte dem zürnenden Gott Einhalt tun. Aber er erhörte sie nicht. Da kamen die Frauen und Mütter Lykiens ihm entgegen, und Bellerophon wich aus Schamhaftigkeit zurück. Mit ihm Poseidon, das Meer.

Vor dem Anblick der Mütterlichkeit weicht also der Held Bellerophon, den sonst nichts wanken machen konnte. So die Sage. Ihre tiefere Bedeutung ist nach Bachofen diese: Das Weib ist Gäa, die Erde, der Mann dagegen Poseidon, das Meer. Das bewegliche und vordringende poseidonisch-männliche Prinzip überflutet das feststehende und ruhende tellurischweibliche, befruchtet es und weicht wieder von ihm zurück. Das Fruchtland Mutter Erde überdauert die flüssige, zeugende Kraft, das Stofflich-Feste die steigende und fallende Welle. Erde ist Symbol weiblichen Urmuttertums, Demeter. Der männliche Geschlechtsgeist, verkörpert in Bellerophon, führt den zeugenden Okeanos heran und beugt sich dann wieder vor der Erdmutter Demeter, das befruchtende Prinzip vor dem Gebärenden. Der weibliche Schoß siegt über den steigenden und sinkenden männlichen Phallus, in der sozialen Folgewirkung das Mutterrecht über das Vaterrecht. Diese und zahlreiche andere uns erhaltene Mythen geben Zeugnis von der Macht und Größe des urgriechischen Muttergeistes und von der mystischen Verehrung, die die Mütter genossen.

Bei den Kretern wurde nach Plutarch die Heimat Mutterland, nicht, Vaterland genannt. In slawischen Ländern sagt man noch heute: "Mütterchen Rußland". Auch in dem Wort Metropole, Mutterstadt, hat sich bis heute die gynäkokratische Denkweise erhalten. Aus dem gleichen Grunde sagen wir "Muttersprache" und nicht "Vatersprache". Völlig unsühnbar war bei den Kretern und allen Urgriechen der Muttermord. Er verstieß gegen das Göttliche selbst. Aus der Strenge, mit der das Vaterrecht bei den späteren Griechen und vor allem bei den Römern gelehrt und gehandhabt wurde, kann man schließen auf die Macht und weite Verbreitung des Mutterrechts, das früher geherrscht hatte und verdrängt worden war. Bis zu Julian hat sich die Grundauffassung der gynäkokratischen Vorstellungswelt erhalten, daß das Kind theoretisch vaterlos sei. Omnis fructus non jure seminis, sed jure soli percipitur (Digesten, VII). Jede Frucht muß als vom Mutterboden, nicht als vom Samen kommend betrachtet werden. Der Vater ist nur der Erwecker, das Kind ist Frucht des Mutterkörpers, des weiblichen Saatfeldes (Spurium), der Ackerfurche, aus der die "Gesäten" (Spurii, Name für die unehelichen Kinder in Rom) erwachsen. Die männliche Pflugschar (Aratrum) pflügt den weiblichen Erdschoß. Der Vater ist also nicht mehr als Pflugschar und Säemann, der das Korn in die geöffnete Furche wirft und dann seines Weges weiter zieht. Bei späteren römischen Schriftstellern (Plautus) wird das Wort "Materfamilias" (Stammmutter) und "Matrimonium" (Ehe) viel gebraucht, das Wort "Paterfamilias" nur selten. Und das Wort "Patrimonium" ist überhaupt nie gebildet worden, stets nur "Matrimonium", ein Beweis dafür, daß die Vaterlichkeit primär nicht zum Begriff der Ehe gehört hat. Nach dem alten Mutterrecht gehörte der Vater überhaupt nicht zur Familie, eine Anschauung, die in der Antike so stark nachwirkt, daß noch im römischen Recht, das gewiß nicht männerfeindlich ist, der Vater nur als juristische Fiktion erscheint, die Mutter aber als physische Tatsache. Die Mutter ist immer "natura vera et certa", der Vater nur "jure verus et certus", d.h. kraft des Ehevertrags, also infolge eines juristischen Aktes. Und das uneheliche Kind wird auch im römischen Recht noch als vaterlos angesehen. "Nullum patrem habere intelliguntur", sagt Seneca von den sogenannten "publici pueri", den "Gesäten" (Spurii), d.h. den unehelichen Kindern. Nach der mutterrechtlichen Anschauung ist aber jedes Kind ehelich, wie sich von selbst versteht, weil jedes Kind eine Mutter hat. Das Mutterrecht ist also Naturrecht, das Vaterrecht eine zivilrechtliehe Erkünstelung. Das Tier ist immer beim Mutterrecht stehengeblieben, ebenso der früheste Kulturmensch. Erst das juristische Denken in der männlichen Ratio hat die Naturordnung umgeändert. Als verwehtes Blatt, das zur Erde fällt und abstirbt und von dem keine Erinnerung bleibt, wird in vielen Bildern und Mythen der Urzeit der Vater angeschaut. Als unser nährender Boden aber stets die Mutter, und die Erde als unser aller Urahnin, jene Platonische "Penia" (Stofflichkeit), die der befruchtenden Ideen - auch diese Deutung ist begründbar wartet, um neue Kinder zu gebären. Und auch wir gebrauchen noch heute für den Schoß einer Körperschaft, der wir unsere Bildung verdanken, z. B. der Universität, den Ausdruck "alma mater", nährende Mutter.

Wenn man das Bild der Demeter betrachtet, wie es noch heute in den Thermen des Diokletian aufbewahrt wird, so überwältigt den Beschauer der geheimnistiefe Zug von Trauerder in dem stillheiligen Antlitz der "Großen Mutter" ruht, Es ist derselbe tiefe Rätselzug, der im Gesichtsausdruck ge- wisser ägyptischer Bildwerke hervortritt. Vielleicht ist es der durch unsere Kultur zu Grabe getragene Naturgedanke, der im Antlitz der Isis und Demeter trauert. Muttererfahrung! - Hingegangen ist das Kind, die große Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Ein anderer Geist regiert die Menschheitskultur als der Muttergeist, der kalte und grausame Rechtssinn der Männer, nicht der göttlich-warme Liebessinn der Mutter. Und die Menschheit erstickt unter einem Hochgebirge von Pandekten.

Das Links ist weiblich, das Rechts männlich. Ägypten war gynäkokratisch, von der linken Isishand regiert. Wo der "major honos laevarum partium" galt, die Höherbewertung der linken Hand, des Links überhaupt, können wir unbedingt auch auf gynäkokratisches Denken und Fühlen in der vorklassischen Kultur schließen. Auf der Seite des weiblichen Links steht ferner die Nacht, das Mystische, Tellurisch-Dunkle, das Seelenprinzip. Auf der Seite des männlichen Rechts der Tag, das nüchtern-klare und geheimnislose Geist- und Erkenntnisprinzip. Der Mond ist weiblich (Selene), die Sonne männlich (Helios). Die Amazonenkönigin Penthesilea möchte den männlichen Helios an seinen goldenen Flammenhaaren zu sich herabziehen, wenn er am Haupte ihr vorüberfleucht. Kleist!

Der mütterlich-tellurischen Betrachtung steht im vor antiken Mythos die männlich-uranische gegenüber. Das Mutterrecht verkörpert das Vorrecht des Gesetzes des seelisch-körperlichen Urlebens vor dem Gesetz des von der Körperbasis losgelösten reingeistigen Luxuslebens. Zu Beginn der menschlichen Kultur ist die Liebe, die aus der Mutter zum Kinde bricht, das Gesetz, nach dem sich die Gesellschaft baut. Daß sich das Kind als Sohn oder Tochter eines Vaters fühlt, seinen Erzeuger kennt, liebt und verehrt, erfordert bereits eine Kette von Syllogismen, die einen höheren, erst später erworbenen Grad geistiger Abstraktion voraussetzt. In der sozialen Dämmerung der Urzeit leuchtet allein der helle Strahl der Mutterliebe als Richtstern und Urgesetz. An ihm erwachte die Menschheit zur Gesittung. Vor der rätselvollen Tiefe des Muttertums beugte sich auch der roheste Krieger. Liebe, Hingabe, Aufopferung strahlte aus dem Mutterbilde, das Gefühl von der Brüderlichkeit und Familienzusammengehörigkeit aller Menschen gebar sich aus dem Muttergeist. In allen gynäkokratischen Kulturen gewahrt man die Vorherrschaft des Sympathiegedankens. Gastfreundschaft, Milde der Menschenbetrachtung, Freiheit und Gleichheit herrschten im Mutterrechtsstaat, ein intensives Gemeinschaftsgefühl, ein fester Zusammenschluß der Volksgenossen. Durch das Fehlen inneren Haders und Klassenkampfes überrascht jede gynäkokratische Staatsform. Noch bei den Römerinnen war es Sitte, nicht für die eigenen, sondern für die Kinder der Schwester zur Magna Mater zu flehen. Bei den Karern galt als die höchste Tugend die Verwandtenliebe. Im Mutterrechtsstaat der Vorantike wäre auch die Gretchentragödie unmöglich gewesen. Sie ist eine Errungenschaft der androkratischen Kultur, die gerade in den Ehefrauen vielfach eine so starke Stütze hat. Und wer konnte töten, der an die Mutter dachte, die eigene oder fremde? Der männliche Geschlechtsgeist denkt von Natur nicht an die Mutter, wenn er einen Fremden sieht, sondern an den Feind, den juristischen Kontrahenten, den sexuellen Nebenbuhler, den politischen Gegner, gemäß der Optik des von den Römern geschaffenen Rechtsgedankens, nicht an der Mutter Sohn. Leibeigenschaft, Sklavenhandel, Klassen- und Völkerhaß, Raubkrieg und Menschenmorden, soziale Not und Kämpfe, - das alles fließt zum nicht geringen Teil aus dem juristischen Geist des Vaterrechts.

Die Sabinierinnen erschienen in der Schlacht zwischen den Kampffronten, und ihr Anblick schlichtete den Streit der Männer. In Hannibals Bündnis mit den Galliern waren gallische Matronen die Schiedsrichterinnen. Wir haben viele Belege aus der Vorantike, wo Frauen, zu Kollegien vereint, als Richter auftraten, die Friedensbedingungen festsetzten, in Volksversammlungen sprachen, wahrsagten, ihren Leib hingaben für die Rettung des Landes, ja sich am Altar den Göttern opfern ließen wie Iphigenia. Das römische Imperium zertrat das Frauen- und Mutterrecht, und das Christentum, das den römischen Imperialismus ausbaute, verdammte das Weib noch tiefer und behauptete, der Teufel wohne in ihm. Der Hellenismus hat diesem Zusammenbruch des Mutterrechts in der alten Welt vorgearbeitet, schon bei Homer. Um Helena wurde geschachert und gestritten wie um eine Ware. Und Athene, die mutterlose, dem Haupt eines Mannes entsprungene, ist bereits der noch ins Weib verkörperte Schutzgeist männlicher Heldenkraft und odysseischer Heldentücke, lediglich dazu da, die Präponderanz des männlichen Erkenntnisgeistes zu erhärten und mit magisch-göttlichem Schimmer zu umgeben, ein Mannweib, das kein Muttertum besitzt und geschlechtlich eine Fiktion darstellt wie das Flügelroß. Als Athene schon herrschte, lebte aber noch im Hellenentum der Geist der großen Frauen der Vorantike nach, in der Pythagoreischen Theano, in der Sokratisch-Platonischen Diotimagestalt, in Medea, Iphigenia und Elektra, in der göttlichen Sappho.

8. DIE GYNÄKOKRATISCHE URKULTUR

Gehen wir von der sozialpolitischen Betrachtung zur religiösen über. Die Religion ist der Hebel aller Kultur gewesen, die gestaltende Urkraft allen sozialen Beisammenlebens, die erste Geistesmacht im Werden der Völker, Schlüssel zu allen kulturphilosophischen Rätseln. Die Götterwelten, die sich die alten Menschheiten schufen, sind gleichsam die Photographien der damaligen Zeit.

Durch seelische, religiöse, ja magische Kräfte entriß vor alters das Weib, das physisch schwächere Wesen, dem Manne die soziale Herrschaft. Damals fürchtete der männliche Geist noch das Übernatürliche, Göttlich-Dunkle und Transzendente, das große Unerklärbare des Weltzusammenhanges, zu dem die Seele des gebärenden Weibes unmittelbaren Zutritt zu haben schien. Daher die faszinierende Macht des Weibes, aus dessen Körper das Leben lief wie aus der schaffenden Hand eines Prometheus. Heute ist die Welt erforscht, jene Scheu, Ehrfurcht, Angst vor dem Rätselhaften des Geburtsaktes ist geschwunden. Auch das Weib ist begriffen durch eine Wissenschaft, und ihr Zauber verblaßte.

Pythagoras aber noch, der Erhalter oder Wiedererwecker des matriarchalischen Denkens der Urzeit im klassischen Griechentum, sprach zu den Krotoniatinnen von der Deisidaimonia des Weibes, der Gottesfurcht, deren geborene Hüterin das Weib sei und die von ihm auf die Männer ausstrahle. Die naturgeschaffene Priesterin war deshalb das Weib in der Vorantike. Wie die geborene und von Natur berufene Richterin über Recht und Unrecht in der Kinderschar, die sie gebar. Jedem ihrer Kinder war sie die Gottheit, an deren Hand sie ins Leben traten, die Richterin, die ihre Wege lenkte, oft bis ins höchste Alter. So spricht Hesiod sogar von der ewigen Unmündigkeit des Sohnes, der bis in sein hohes Alter der Hand der Mutter sich freut. So wurde auch das Wort aus dem Munde der Frau zum Orakel, zum unverbrüchlichen Gebot. Weibliche Prophetie ist uralt, ist überhaupt eine Erfindung des Weibes, die sich in Griechenland noch lange erhielt. Goethe verehrte antike Frauenmacht im Bilde der überlebensgroßen Juno. Überlebensgroß stand die Mutter, die lebendige Offenbarung eines göttlichen Gesetzes, vor der erwachenden Humanität jenes Kulturzeitalters.

Eusthat berichtet von Arete, der Königin der Phäaken, die wie eine Göttin von ihrem Volke geliebt und verehrt wurde, deren Wort heilig war. Weibliches Königtum findet sich überall in der Vorantike. Es rinnt zusammen mit dem weiblichen Priestertum, das sich bis in die Zeiten Roms erhielt und erst durch das Christentum vernichtet wurde. Auf kultischer Grundlage erwuchs also das weibliche Königtum, die Gynäkokratie überhaupt, der naturhaft-sakrale Grundcharakter des Muttergeschlechts hat sie geschaffen. Bei den Lokrern durften nur Mädchen und Frauen die Kulthandlungen ausüben, das weibliche Opfer duftete der Gottheit süßer als das männliche. Das sterbliche Weib war die Stellvertreterin der unsterblichen tellurischen Urmutter im Leben der Völker. Frauen waren die Verwalterinnen der Mysterien der Demeter in der vorhellenischen, pelasgischen Zeit. Es gab, so schien es, keine bessere Hierophantin als das mütterliche Weib. Denn das Wunder des Keimes das ist Demeter, der Wechsel von Korn und Samen, Leben und Tod, Blüte und Schoß, in dem alle Gegensätze zur mystischen Einheit zusammenwachsen. So verbindet sich im Weib das Sinnliche und Übersinnliche zur magischen Einheit, die als Gottheit verehrt wurde, als Harmonie, Eunomia, Wohlgesetzlichkeit, Sophrosyne, Glück empfunden wurde. Die Harmonie wird bei den Griechen überall geliebt und gesucht und geradezu "weiblich" genannt. Im Grundgefüge des Muttertums liegt für die gynäkokratische Betrachtung die Weltharmonie verankert, die Lösung der großen Antithetik von Leben und Tod, Sein und Nichtsein. Erst die androkratische Kultur zerreißt diesen Weltharmonismus, den die vorapollinische Zeit der Griechen noch sah und im Anblick des Weibes verehrte. Auch Pythagoras sah und hörte die Harmonie des Ewig-Weiblichen noch, kein Wunder, daß sein Denken gynäkokratisch war. Der Gedanke der Paternität hebt dagegen die Antithesen im Bau der Menschennatur hervor, die Unvereinbarkeit von Tod und Leben, Geist und Stoff, Erkennen und Sein, die großen Dualismen des Menschenseins, an denen sich die männliche Dialektik so gerne übt. Die Metaphysik der gynäkokratischen Kultur aber ist monistisch. Schon Herodot erkannte dies und sah den Unterschied und Gegensatz der ägyptischen und attischen Kultur unter diesen Gesichtspunkten. Im gynäkokratischen Ägypten hatte Isis den Vorrang vor Osiris, in Attika aber siegte Apoll. Das morgenländische Asien hielt am Mutterkult fest bis in die Zeiten von Rom. Das abendländische Griechenland emanzipierte sich rascher von ihm, und man kann im damaligen Griechenland geradezu von einer "Männeremanzipation" sprechen. Pythagoras bekämpfte den androkratischen Hellenismus und suchte die Weisheit der afrikanischen und asiatischen Welt, des Orients, wieder in Griechenland zu erneuern, das seine eigenen Wege zu gehen im Begriff war. Im Platonismus befruchtet diese Weisheit nochmals den griechischen Geist, der schon Selbständigkeit errungen hatte. Denn Platos "Ideen" sind die Mütter der Welt. Matriarchalisch ist der Idealismus Platons zu deuten, wie Goethe richtig erkennt. Pythagoras hat das Mysterium des chthonisch-demetrischen Kultes wieder beleben wollen. Die klassische Antike aber hat anders gesteuert, rechts, nicht links, androkratisch, nicht gynäkokratisch. Zwei oder drei Jahrhunderte - und die Verzweiflung der Skepsis und der Stoa wurde möglich. In ihrem Gefolge das Christentum, dieser wehe Wille zum Heiland, der im Manne erwartet wird, zur Erlösung und Befreiung von der Welt und dem Leben überhaupt. Auch hier kann man singen mit Schiller: Da ihr noch die schöne Welt regiertet: Theano, Sappho, Diotima, die Seherin von Mantineia, Isis, Demeter, die großen Mütterlichen des Plato.

Herder spricht von den "Elohim", sagenhaften und merkwürdigerweise ungeschlechtlichen Halbgöttern, die ihre Hand, wie Herder glaubte, aus den Wolken herniedergestreckt haben sollen, um den Menschen zu erheben vom Tier. Der wahre Elohim der klassischen Menschheit ist Demeter gewesen, diese älteste "Erzieherin des Menschengeschlechts", die in zahlreichen Gestalten auf der abendländischen Urerde wandelte. Von ihr der erste Staat und die erste Gesittung. Im "gremium matris" blühten die ersten emporziehenden Kulturkräfte. Das uranische Licht traf den männlichen Ratiogeist wie ein kalter, zersetzender Strahl, der den dialektischen und juristischen Neikos entzündete, nicht die weltharmonische Philia.

Die gynäkokratische Urkultur läßt, wie Bachofen zeigen zu können glaubt, drei Formen unterscheiden, die hetäristische, die demetrische und die amazonische. Die hetäristische ist der ursprünglich rohe Zustand, die amazonische der äußerst entartete Auswuchs. In der Mitte steht die demetrische Form, in der die Ehe entstand, die ursprünglich eine rein gynäkokratische Institution war, d.h. eine ,,,Ehe" der Mutter mit dem Kind, wobei die Vaterschaft juristisch irrelevant blieb, wie noch das Wort für Ehe, das die Römer gebrauchen: "matrimonium" beweist.

Von der Lust des Mannes zu Tode ermüdet, erstrebte die vom Manne gemißbrauchte und schlecht entlohnte Hetäre der Urzeit die Einehe der strengen matriarchalischen Lebenszucht. Aber die Ehe mit nur einem Manne war eine Neuerung. Wer sie einging, verletzte ein religiöses Gebot, das auf der biologischen Natur des Weibes sich gründet, nicht nur einem männlichen Samenträger zugänglich zu sein, so wenig wie die schön geschmückte Matrix der Blume nur einem Insekt offen steht. Einehe beim Menschen bedeutete also Abweichung vom Naturgesetz und somit Versündigung an der Gottheit, die ein Sühnopfer verlangte. So entstanden jene zahlreichen Gebräuche bei der Eheschließung, deren Sinn ist, das Wohlwollen der erzürnten Gottheit, deren Gebot verletzt wurde, zurückzu- gewinnen. Die Darbringung des Haupthaares war ein solches Symbol der Entschmückung des Weibes zur Versöhnung der Gottheit, des Weibes, das von nun an nur noch einem Manne zugänglich sein wollte, also auch der Fülle des Schmuckes, um viele anzulocken, nicht mehr bedurfte. Die Hetäre verdiente sich noch ihre Dos durch Verkauf ihres Körpers an die Männer. In der demetrischen Gynäkokratie aber, in der die antike Frau aus dem Aphroditismus, wo sie der Mannesmacht preisgegeben war, in die Einehe sich rettete, galt der Dotalzwang, d. h. die Aussteuerung des Mädchens durch die besitzende Mutter unter Benachteiligung der Söhne. So entstand das Töchtererbrecht, das Weib erhöhte sich am Besitzgedanken, und die niedere hetäristische Form der Gynäkokratie wurde überwunden. Noch heute sollen auf Kreta und Lesbos im niederen Volk diese und ähnliche matriarchalische Anschauungen und Sitten herrschen.

Die innere Wahrheit und Würde des Gedankens ist unverkennbar. An sich selbst und seiner Lebensnotwendigkeit erwachte der demetrische Mutterstaat aus der Urform des Hetärismus, mit derer immer noch das gemein hat, daß er auch jetzt noch trotz der Einehe den Vater nicht kennt. Immer noch wie im Zeitalter des Hetärismus gelten die Kinder als vaterlos oder vielvätrig, als Gesäte, Spurii; Ihr Erzeuger ist ein Niemandsmann, ein unbekannter Sertor, Säemann, geblieben. Diese Terminologie erhielt sich bis in die spätrömische Welt, ein Beweis für die Macht der Urform, die dem römischen Männermachtstaat vorherging und auf der diese nur schwer ausrottbare Tradition beruhte.

Der Amazonenstaat ist eine universelle Erscheinung, in allem Völkerleben vorkommend. Wir finden diese unnatürlich zugespitzte Form der Gynäkokratie in Asien wie im Okzident, im Norden wie im Süden, ebenso in Amerika bei den Indianern. Teils lebt von Natur das Weib kriegerisch wie der Mann, teils hat der Angriff auf die Rechte des Weibes den Widerstand des letzteren hervorgerufen, was in jenen Zeiten des Überganges aus der sozial noch ungeregelten nomadischen Lebensform zu blutigen Racheakten des Weibes gegen das männliche Geschlecht geführt haben mag. Einem konstitutionellen Naturgesetz entspricht die Steigerung des Mutterrechts ins Militaristische jedenfalls nicht. Mag immerhin ein Zauber des Ungewohnten die kühne Arestochter umwittern, wie sie uns Homer schildert und wie sie die germanische Göttersage in der Walküre darstellt oder Heinrich von Kleist in der Penthesileagestalt in ihrem Gegensatz von Lieblichkeit und grausiger Furchtbarkeit - mag auch das Weib bis zu einem gewissen Grade fähig und geeignet sein, die Waffe zu tragen -, ihr Wesen, der Sinn ihres Seins, also der Muttergeist, zielt nicht auf rohe kriegerische Gewalt, auf Raub und Mord, Zerstörung, Haß und Feindschaft, wilde Beutezüge und Niederbrennung fremder Siedlungen. Das alles ist Manneswerk und Mannesgeist. Allerdings wurde von jeher die männliche Sexualphantasie durch die Gestalt des kriegerischen Kraftweibes, das sich zur Befriedigung ihrer Lust Jünglinge raubt, gewaltig angereizt. Aber dazu ist die Geschichte nicht da. Denn die Geschichte lehrt uns auch, daß der Amazonenstaat nirgends längeren Bestand gehabt hat. In der Gründungsgeschichte vieler Städte vom Nilufer his zum Pontus, die uns in Mythen erhalten ist, spielen seßhaft gewordene weibliche Reiterscharen eine Rolle. Alle Amazonengeschichten enden in Staatsgründungen und schließlicher Aufgabe des kriegerischen Handwerkes, das wieder den Männern überlassen wurde. Denn Fixierung des Lebens ist dem Weib eine Naturnotwendigkeit. Sie braucht Haus und Herd und Staat und geordnete Verhältnisse weit unmittelbarer als der Mann, um die Evolutionen des Lebens, die sie an ihrem Leibeswesen erfährt, ohne Schaden überstehen zu können.

Der Mond flieht vor der Sonne. So flieht Artemis vor Helios, so die Amazone, die durch Abschneiden einer Brust ihr Muttertum verletzt hat, vor der Ehe, d.h. der dauernden Verbindung mit einem Manne, aber doch wohl nicht vor dem Kind, wodurch ihre Idee ad absurdum geführt würde. Sie ist und bleibt jedenfalls eine romantische, sozial kaum durchführbare Sagengestalt. Einsam wandelt nächtlich der Mond am Himmel, wie eine keusche Jungfrau. So verehrten die Amazonen Artemis und das Gestirn der Nacht. Der Zug des Grausamen lebt im Bilde der Thermodonterinnen neben dem der sittlichen Strenge. Sie trugen die Gorgo, um ihre Feinde zu schrecken. Wer in ihr Antlitz schaute, erstarrte vor Entsetzen. Ein Zug, der in der Kybelegestalt wiederkehrt. Auch die Biene, das Vorbild der Natur für einen glücklichen, vom Muttergeist erfüllten Staat, hat man eine Amazone genannt. Auch sie trägt in ihrem Stachel eine Waffe und ähnelt auch sonst in vielem der homerischen Arestochter, z. B. in der Drohnenschlacht, in der sie alles, was männlich ist, mordet, so wie die Amazonen die Knaben, die sie gebaren, wieder getötet haben sollen. Und doch paßt der Vergleich nicht auf die edle Biene, das höchste Vorbild sozialen Lebens, das es in der weiten Natur gibt. Nur in der Not, wenn der Volksstaat bedroht erscheint, greift sie zur Waffe. Der Muttergeist, nicht der Kampfesinstinkt ist ihr führender Trieb und gewaltig und sieghaft entwickelt. Denn jede Arbeitsbiene bleibt eine Mutter, auch wenn ihr Schoß verkümmert ist, um dessen Kraft abzugeben und zu sammeln und zu steigern in der Königin. Die Amazone aber entfernte künstlich eines der Merkmale ihres Mutterturns, um es dem Manne im Kriegshandwerk gleichtun zu können, was ihr doch niemals gelang. Die Natur ist also in ihr verletzt, und sie stellt einen Auswuchs und eine Verirrung der gynäkokratischen Bewegung dar.

Der erste Feind des Matriarchats in der Antike war Dionysos, der wilde, ekstatische, dessen Ruf Anerkennung der Herrlichkeit der männlich-phallischen Natur forderte. Dionysos ist ein Gegner des strengen und eunomischen Mutterrechts, das er durch den wilden Aphroditismus zu zerstören sucht. In rasenden Taumel stürzt er die weibliche Psyche, untergräbt die strenge Zucht des demetrischen Prinzips, raubt jede Besinnung durch das bacchische Element, den Wein, die Traube, die nun an Stelle der Ähre Demeters, dieses Symbols der Friedensherrschaft, tritt. Er löst alle Fesseln der Seele und revolutioniert das Weib. Dennoch dient er ihm in gewissem Sinne und gibt ihm von neuem das Zepter in die Hand, wie die Basileia in den "Vögeln" des Aristophanes beweist. Man kann also neben der demetrischen eine dionysische Form der Gynäkokratie unterscheiden, die hedonisch-enthusiastisch ist. Afrika und Asien gingen vielfach über zu dieser Form, in der die sexuell-animalische Seite der Menschennatur verherrlicht wird.

Soviel über die einzelnen Formen der Gynäkokratie. Man hat nun eingewendet, der Weiberstaat sei ein Zeichen gebrochener Männerkraft. Der gynäkokratisch regierte Mann sei ein Schwächling, verweichlicht, erschlafft, degeneriert. Ein Blick auf die Geschichte beweist das gerade Gegenteil. "Die meisten kriegerischen und streitbaren Völkerschaften haben das Matriarchat", sagt Aristoteles (Pol. 2, 6). In der Tat, gerade die kräftigsten und kriegerischsten Völker der Vorantike waren gynäkokratisch regiert. Die Lykier z. B. sollen sehr tapfer gewesen sein, Bellerophon, der Begründer der Gynäkokratie, eine Art zweiter Herakles, ein edler und kühner Held. Die lakonische Mütterherrschaft in Sparta ist bekannt, und die Spartaner zeichneten sich vor allen Griechen, namentlich vor den weichlichen, vergeistigten Athenern, durch Härte ihrer pflichtbewußten Willensnatur aus. Die Kelten, ein sehr kriegerisches Volk, waren durch und durch gynäkokratisch regiert. Schon deshalb hatten gerade die kriegerischen Stämme gynäkokratische Staatsformen, weil die Männer oft jahrelang von Hause fern waren, auf Kriegsfahrten begriffen. So zogen die Skythen bis nach Ägypten, wo sie Psammetich mit Geschenken abfand. Ihren Staat regierten wie ganz natürlich ihre Frauen und Mütter als die Grundpfeiler der staatlichen Gemeinschaft. Ähnlich die Karer und Leleger. Es liegt also nicht der mindeste Grund vor zu der Behauptung, daß die Gynäkokratie die Männer verweichlicht habe oder erst durch die Entkräftung und Erschlaffung des Mannes entstanden sei. Das Gegenteil ist vielmehr richtig. Hochentwickelte geistige Kultur verweichlicht. Das römische Imperium z.B., dieses Prototyp einer Androkratie, zeigt auf der Höhe seiner Entwicklung den entkräfteten Mann, dessen Macht sowohl durch das Gerrmanentum, als auch durch die Unnatur der Knabenliebe gebrochen wird. Und im Mittelalter entwickelte der Mann seine edelsten ritterlichen Tugenden gerade in der Zeit des Minnedienstes und Frauenkultes, der vielfach ganz ausgesprochen gynäkokratische Umgangsformen angenommen hat. Ist es ein Zufall, daß der Mann, der im Frauendienst gebildet war, damals aus einem rohen Krieger zum Ritter wurde, der für abstrakte Ideen sein Leben ließ wie der Kreuzfahrer? Am Zeitalter des Gralsrittertums kann man ablesen, daß der Muttergeist den Mann zu seiner echtesten und edelsten Form erhebt und erzieht. Die römische Androkratie erzog ihn zu seiner schlechtesten, dem knabenliebenden Nerotyp, und später zu dem intoleranten und sadistischen Ketzerrichter und Hexenverbrenner. Degeneriert ist der Mann solange nicht, als er noch glaubt, daß im mutterlichen Weib göttliche Mächte wohnen und walten und daß das Weib priesterlich sei. Der moderne Mann freilich kennt Regungen solcher Art kaum noch. Sein Intellekt ist die höchste Autorität, die er annerkennt. Dieser Mann, der gewohnt ist, im Klima der androkratischen Selbstverherrlichung zu schreiten, empfindet das Natürliche so oft als degeneriert, weil das Degenerierte so oft seine natürliche Lebensform geworden ist.

9. DER UNTERGANG DES MATRIARCHATS

Der Untergang des Matriarchats beginnt mit der Emanzipation des männlichen Denkgeistes vom stofflichen Urboden der Natur und damit auch von der Frau. Er verlegt sein Nomadentum, seine Odysseen und Wanderzüge in geistige Welten und macht sich frei vom tellurischen Prinzip, von der Erdmutter Demeter. Dieser Kampf der Geschlechter fällt noch in die vorhomerische Zeit. Die Gynäkokratie zieht sich in immer engere häusliche Kreise zurück, während allerdings auch Beispiele vorhanden sind, wo sie als staatliche Institution sehr lange gedauert hat wie in Lykien. Noch Homer berichtet vom weiblichen GöttinnenKönigtum der Kalypso und Circe, das sich oft sehr lange im Innern des Palastes unsichtbar den Blicken der Welt erhalten hat. Am längsten erhielt sich die Tempelgynäkokratie.

Allmählich vollzieht sich jener Intellektualisierungs und Spiritualisierungsprozeß, der die Macht und Geltung des Muttergeistes in Frage stellte und den Sieg des Vaterrechts ermöglichte. Das erweckende Vatertum ist ohne sichtbaren Zusammenhang mit dem Kinde, auf einer logischen Kette von Schlußfolgerungen beruhend. Nur durch Vermittlung der Mutter ist der Vater mit dem Kinde verbunden. Wird nun der nur erweckenden Potenz ein Übergewicht eingeräumt über die gebärende, nährende und pflegende Mutterpotenz, so bedeutet dies den entscheidenden Akt des Heraustretens aus der Natur, des Überschreitens eines Naturgesetzes, das für ewige Zeiten gilt. Auch wir Modernen, wenn wir auch das Naturgesetz nicht mehr religiös sanktionieren, sind gezwungen, seine Unverletzlichkeit anzuerkennen, und tun dies auch, wollen wir nicht Schaden nehmen an unserm Leib, der unseres Geistes Träger ist. Wir heiligen seit der Renaisssance, seit Rousseau und Goethe wieder die Natur, was der mittelalterliche Mensch unterlassen hatte. Folglich müßten wir in gewisser Form auch wieder zum Muttergeist und Mutterrecht zurückkehren. Denn das Vaterrecht ist griechisch-römisch-christliche Unnatur, eine Ambition der entnaturalisierten Ratio, deren Berechtigung durch die Enttwicklung Lügen gestraft worden ist. Wer da ruft: "Zurück zur Natur!" -, der müßte folgerichtigerweise auch rufen: "Zurück zum Mutterrecht!" Das Mittelalter glaubte, der Mensch sei nur Geist. Der Leib, das Fleisch war verdammt und teufelseigen wie die ganze Natur. Das spiritualistische Christentum ist ein noch größerer Feind des Mutter-Natur-Rechts als das juridische Römertum. Wir aber sind nicht mehr "Christen" in der herkömmlichen Weise. Wir wissen, daß der Geist nicht ohne stofflichen Träger sein kann. Daher liegt es in der Konsequenz des zu Ende gedachten Naturalismus, der all unser Denken heute beherrscht, daß wir auch unser Staats- und Familienrecht biologisch revidieren und korrigieren und eine lediglich spiritualtechnische Konstruktion wie das Vaterrecht wieder auf ihr gerechtes Maß zurückführen. Der Geist der Hexenverbrennungen lebt aber heute noch. Gretchentragödien ereignen sich an jedem Tag in der Woche. Die "Gesäten" sind noch immer geächtet, obwohl sie nach dem natürlichen Mutterrecht genau so ehrlich und ehelich geboren sind wie die Nuptialen. Eine Matrone ist in unsern Lustspielen fast stets eine komische Figur, was sie bei den Alten niemals war, von der Vorantike, die ihnen göttliche Ehren erwies, gar nicht zu reden. In italienischen Varietes pfeift und johlt das ganze Parkett, wenn "una vecchia" auf der Bühne erscheint. Scham und Abscheu ergreift jedes fühlende Menschenherz, wenn es sich an solchen Beispielen die Verrohung und Entartung der modernen Zivilisation klarmacht, in der alles Heilige, sogar der Muttergedanke, dahingesunken zu sein scheint. Unreife und liederliche junge Männer, von ihren Vätern mit kalten Zynismen erzogen, machen in solchen sogenannten Vergnügungsstätten die öffentliche Meinung. Wäre nicht der Lichtblick der modernen Sportbegeisterung, dieser großen Bitte an die Magna-Mater-Natur um Hilfe und Rettung aus körperlich-geistiger Not, man müßte mit dem Wort der Seufzerbrücke auf den Lippen die Feder für immer absetzen. Wer den Sport liebt und seinen Körper pflegt, heiligt bereits wieder die Mutter, die ihm die Kraft und Schönheit seines Körpers schenkte. Er trainiert sozusagen das demetrische Prinzip in sich, nicht mehr den entkörperten Geist, der in seiner Loslösung vom Leib und seiner stofflosen Sublimierung jene Abirrung von der Natur darstellt, die nach dem Ausspruch aller großen und kleinen Rousseauanhänger das Elend der modernen Menschheit verursacht hat. Der mensendieckende Mensch gibt seiner Bitte an die Magna Mater sozusagen täglichen Mutter-Unser-Charakter. Errette mich von der Fettleibigkeit, so betet er, diesem Symptom einer sitzenden, dem Training des Intellekts gewidmeten Lebenskultur, die die Mönche erfanden. In der Patristik entstand jener Fettansatz am Geistmenschen, der in der Scholastik so gewaltige Dimensionen annahm. Gepaart mit der Glatze, diesem sexuellen Schaumerkmal des geistigen Mannes, bewies er die wechselseitige Zurückwirkung der Dekadenz beider Seiten unseres Menschentums aufeinander. Der moderne sportliebende Mann nähert sich aber ganz von selbst wieder dem Ideal des ritterlichen Mannes. Er sieht und sucht reine und gesunde Natur im eigenen Körper wie in dem seiner Sportgenossin, des Weibes, das lange Röcke, Zopf und Korsett, diesen christlichen Panzer gegen die Natur, fortgeworfen hat. Die notwendige Folge müßte sein, daß mit dem Körper eines Tages auch der Muttergeist wieder aufersteht, wenn der Intellektualismus der androkratischen Kultur eine so tiefgreifende Korrektur erfährt, wie wir das heute erleben. Ganz ohne Hoffnungen sind wir also nicht. Wir wollen die Feder nicht absetzen. Wir haben ein Recht zu glauben an eine Umkehr des Menschentums zur Natur und damit auch zum Muttergeist.

Im Römer- und Christentum - beides ist nahezu homogen - siegte der männliche Geistcharakter des Menschen über die weibliche Stoffbasis, konsequenterweise das Vaterrrecht über das Mutterrecht, der apollinische Gedanke, wie die Männer, pietätvoll gegen sich seIhst, sich ausdrücken, über das demetrische Prinzip. Eine Loslösung vom Schöpfungssgrund des Menschen setzte sich durch, das Geistgespenst Mensch begann sein tragödienschwangeres Scheinleben, das es über 2000 Jahre aufrechterhalten konnte, nachdem es ihm eine ebenso streng juristische wie ausweglose religiöse Sanktion verliehen hatte. Seit der Renaissance kracht es im Gebälk dieser mächtigen androkratischen Architektonik. Aber noch im Kantianismus erleben wir eine Hochkonjunktur des sogenannten "Apollinismus", der die naturfremde männliche Spiritualität inthronisierte im "Subjekt" und das Ungeheuerliche möglich machte, auch die ewige Gebärerin selbst als bloßes Erzeugtes der androkratischen "transzendentalen Apperzeption" aufzufassen. Das Vaterrecht kulminiert noch einmal im Kantianismus, und der Katzenjammer einer tief und verzweifelt pessimistischen Weltanschauung, der Schopenhauerschen, mußte auf dem Fuße folgen. Jeder sportliebende und seinen Körper pflegende Mensch arbeitet an der Ungültigerklärung der idealistischen Philosophie, die den Mut hatte, die Ewige Mutter für eine bloße regulative Idee unseres Denkens und Handelns zu erklären. Fiktiv und gespenstisch wie die römisch-christliche Konstruktion des Vaterrechts schaut diese Philosophie die Welt. Ihre große Lüge wird heute abgetragen durch den Naturalismus und Biologismus, durch Sport- und Naturbegeisterung, durch den Ekel und Überdruß, den der Mensch des Nachkriegszeitalters gegen alles leere Idealisieren und Spiritualisieren und gegen alle öde Buchmacherei des 19. Jahrhunderts empfindet. "Wo faß ich dich, unendliche Natur, euch Brüste, wo, ihr Quellen alles Lebens!" - Wahrhaftig: schon Faust lehrte wieder das Mutterrecht!

Das Griechentum hat dem römischen Christentum vorgearbeitet. Genaue Prüfung des Mythos, d.h. der antiken Geschichtsschreibung, ergibt zwar, daß der gynäkokratische Urmuttergeist im ästhetischen Hellenismus noch weit stärker nachwaltet als im juridisch-nüchternen Römertum. Man betrachte nur die Zusammensetzung des Olymp und die Macht und Größe der olympischen Frauen, deren Zauber sich auch der Römer noch nicht verschließen konnte. Aber der Sieg des Vaterrechts über das Mutterrecht wurde gleichwohl bereits im Griechentum besiegelt. Das sogenannte apollinische Weltalter verdrängt schon im Griechentum das demetrische. HerakIes, Theseus, Achill führen es herauf. Die ausschließliche Göttlichkeit des Vatertums ist für die abendländische Welt eine Entdeckung der Griechen. Im demetrischen Zeitalter war alles Gabe der Mutter, im apollinischen ist alles erkämpft und erstritten. Die männlich erkennende und ersiegende Kraft wird zur höchsten, prometheischen Gottheit sublimiert, die Sonne als Symbol ihr angeschlossen. Denn die Sonne versinnlicht die erweckende Potenz, zugleich das Phallische, das Auf- und Niedergehende, während der Mond, so philosophiert der Apollinismus, der sein Licht von der Sonne empfängt, stets der weiblichen Potenz als Symbol dient. Darnach wird die Durchführung der Idee der Paternität als Tat des uranischen Sonnenhelden gepriesen, der den tellurischen Dämmerungsgedanken der Muttersymbolik überwand. Herakles und Theseus waren weiberfeindlich, Attika das Geburtsland der Paternität. Athens Gottheit war zwar immer noch ein Weib, nämlich Athene. Aber diese Athene hatte keine Mutter mehr, sondern nur noch einen Vater, aus dessen Haupt sie frei wie der Gedanke dem männlichen Gehirn entsprungen war. Diese vergöttlichte Fiktion eines mutterlosen Menschen, der an Stelle des vaterlosen Menschen der gynäkokratischen Vorantike trat, wurde nun die Schutzgöttin der homerischen Helden und erschien insofern als Dienerin des Mannes, dem sie aus jeder Not half. Allem Männlichen ist Athene gewogen, allem Weiblichen feind. Jungfräulich bleibt sie, niemals erfüllt sie die Idee des Weibes, das Muttertum. Sie ist eine androgyne Konstruktion des sich emanzipierenden männlichen Gehirns, aus dem sie gepanzert und geschient hervortritt, in Wahrheit ein mit Helm, Schild und Lanze gewappneter Mann, dem Weibcharakter beigelegt wird sozusagen aus Herkommen, weil man im gynäkokratischen Zeitalter gewohnt war, das Göttliche vorzugsweise im Weiblichen zu verehren, so wie auch wir Heutigen noch die Justitia, die Sapientia usw. allegorisch in Frauengestalt darstellen, um ihr eine höhere Würde zu geben, nicht ahnend, daß wir dabei einer gynäkokratiischen Denkweise Ausdruck verleihen. Nach Athene, der heldenumschwebenden, mutterlosen und unmütterlichen, buchstäblich aus einem Mannesgehirn geborenen Gottheit, wurde Athen, die Stadt des Geistes, die Gründungsstadt des Vaterrechts, benannt. Hier war das Weib unterworfen, der Androkrat hatte gesiegt, die "Männerbewegung", jenes antike Seitenstück zur modernen Frauenbewegung, hatte ihr vorläufiges Ende erreicht. Das Römertum begründete den Männermachtstaat breit juristisch, das Christentum verdammte das Weib als satanische Lustquelle in Grund und Boden und kodifizierte und kanonisierte die Leitsätze der Emanzipation des Mannes in Athen. "Der Mann kommt nicht aus dem Weibe, sondern das Weib aus dem Manne". So stand es ja schon in der Genesis. Aus einer Rippe des Adam wurde Eva geboren, aus der Großßhirnrinde des Zeus Athene, aus dem Uterus des Gottvaters der Gottsohn in der scholastischen Trinitätsphilosophie. Großartige biologische Einsichten des sich selbst aufs höchste verehrenden männlichen Intellekts! Schließlich und nur folgerichtig: aus der transzendentalen Apperzeption des allmächtigen, also auch gebärenden Männersubjekts die Welterscheinung der Kantianer, die Vorstellungswelt der westöstlichen Pessimisten.

Hinter dem Phänomenon aber thront die Magna Mater. Sie tritt nicht ein in die Erkenntniswelt der männlichen Paternitätssystematiker. Groß, dunkel und unbewältigt durch alle juristischen und dialektischen Kunstkniffe des Denkgeistes west sie jenseits des Satzes vom Grunde und gebiert Geschlechter und Gehirne, die, wenn sie sich frei machen vom Banne des gerade umgekehrt richtigen Satzes der Transzendentalphilosophie, daß die Weltform der Denkform folge, d.h. dem abendländischen Buddhismus der Nachkantianer , wieder zu Demeter beten. -

Alles ist geistgezeugt, besagt der Sinn der Athenegestalt, die die solarisch-erweckende Kraft der männlichen Potenz verkörpert, für die Herakles und Theseus stritten. Und doch kämpft die attische Weltanschauung noch lange mit der altpelasgischen Ideenwelt des Mutterrechts, ein Kampf, aus dem Äschylos und Euripides ihre tiefsten Tragödienstoffe schöpfen. Vom verletzten Muttergeist tönt in furchtbaren Worten das Ödipusgedicht. Und Orest und Alkmaion, die Muttermörder, stehen angeklagt vom alten Mutterrecht, das ihre Tat für unsühnbar erklärt. Vielleicht hat erst Goethe den Orestkonflikt gelöst. Vom klassischen griechischen Denken aus war er unlösbar geworden und mußte tragisch enden, so wie der Kampf des Mutterrechts und Vaterrechts in der Geschichte der alten Welt, ja der Menschheit überhaupt bisher tragisch geendet hat. "Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit", heißt es in der Orestdichtung Goethes. Goethe legt dabei die "reine Menschlichkeit" in die unaussdenklich hohe Gestalt der Priesterin Iphigenia, die durch ihre magische Frauenkraft Seelen heilt, Streite schlichtet und das Herz des Königs regiert. Der Glaube an sie und die götterbewegende Kraft ihres Gebets entsühnt den Orest, der bei Goethe anders als bei Äschylos die bitterste Reue über seine furchtbare Tat empfindet, und versöhnt auch noch das Herz des Gastfreundes, dem sie offen den Verrat entdeckt, um durch den Zauber ihres Wesens, nicht durch Betrug zu siegen. Damit ist im Goetheschen Gedicht der gynäkokratische Gedanke in seiner edelsten Fassung vorgetragen. Das Weib in der Form der reinen Menschlichkeit erscheint als Priesterin, Heilandin, Richterin und Fürstin, die alles wilde Männertun und -planen zum guten Ende führt. Goethe, wenn er die Leiden des Muttermörders, die furchtbare Buße, die Orest mit seiner ganzen Seele darbringt, tief eindringlich malt, entscheidet sich für das Mutterrecht und scheint zu sagen, das Vaterrecht in seiner Alleingeltung, oder auch nur in seiner Vorzugsgeltung, ist nicht "reine Menschlichkeit".

Wie gärend stieg aus der Erschlagnen Blut
Der Muttergeist
Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu:
"Laßt nicht den Muttermörder entfliehn!
Verfolgt den Verbrecher! Euch ist er geweiht!"

Bei Goethe steht: "Der Mutter Geist". Aber der Sinn des Gedichts besagt "Der Muttergeist". Goethes Iphigenia ist die Dichtung des wiederversöhnten Muttergeistes. Die Orestdichtung des Äschylos dagegen ist die Tragödie des triumphierenden Vaterrechts. Goethe, der in Rom jeden Morgen zum überlebensgroßen Junokopf betete, der sich auch in andern Werken zur Konfession des Ewig-Weiblichen bekennt, zeigt uns den büßenden Orest, der in den heiligen Wald der Priesterin flüchtet. Wie verwirrt und zerrissen sind viele männliche sogenannte "Helden" der Goetheschen Dichtung, wie still und groß, innerlich ragend und verklärt viele Frauengestalten des Iphigeniadichters, feste und heilige Gesetze in sich tragend, bis herab zum armen, irrsinnigen Gretchen, das noch im Wahnsinn des Kerkers eine Autonoe ist, eine von sich aus weise, die sich mit untrüglichem Instinkt anschließt an die himmlischen Mächte und jede irdische Hilfe von sich weist. Alle Goetheschen Frauengestalten haben diesen Iphigeniazug der selbstsicheren "Autonoe", an die das demetrische Zeitalter glaubte, während alle Goetheschen Männer ihres Selbst unsicher sind, Werther, Faust, Orest, Tasso, einer wie der andere, und infolgedessen erinnyengejagt nach einem heiligen Walde suchen. Goethe ist der Dichter des Mutterrechts in moderner Beleuchtung. Alle seine Werke scheinen zu sagen, daß nur ein Gebet der Priesterin Iphigenia den Orest Menschheit, der das Mutterrecht verletzt hat, entsühnen und heilen kann.

Autonoe, d.h. eine durch eigene Naturanlage weise, so hieß die Tochter des Jobates, Gemahlin des Gründers der lykischen Gynäkokratie Bellerophon. Strabo erklärt den Namen. Unbewußt, aber völlig sicher spricht in der Autonoe die Dike, d.h. das Gefühl von dem, was Recht ist, was sich ziemt. Daher ist nach den Anschauungen des Mutterrechts das autonoetische Weib zur Trägerin des richterlichen Amtes besonders qualifiziert. Sie ist von Natur Dikeia. Von Natur ist sie auch Fatua, das Fatum sehend, d.h. den immanenten Sinn aller Gerechtigkeit im irdischen Geschehen, und somit auch Prophetin. Noch heute ist der Beruf der Wahrsagerin und Kartenlegerin, den wir deshalb nicht als unbedenklich bezeichnen wollen, ein ausgesprochener Frauenberuf, erwachsen aus dem uralten Glauben prophetischer und magischer Kräfte der Frau. Jedes Weib ist eine geborene Sibylle, und das Goethesche "Anfragen bei edlen Frauen" war die Geheimkunst vieler klugen Männer in der Geschichte, die sich, wie schon die Griechen taten, bei einer Pythia Rat suchten, wenn ihr irrendes Herz keinen Ausweg fand. Merkwürdig, daß sich die moderne Frau dieses Machtmittels, das ihr die Natur verlieh, entschlagen konnte, statt es zur höchsten Blüte zu entfalten durch eine spezifische, nicht der männlichen nachgeahmte Form der Frauenbildung! Nur aus Schuld der Frau ist der männliche Orest heute noch alleiniger Richter kraft des Jahrtausende alten androkratischen Fehldenkens der Menschheit. Der männliche Richter ist meist "befangen''. nämlich in der naturfernen Enge seiner Intellektualität und im Mangel an autonoetischer Begabung. Nicht ohne Grund sprechen wir vom "erkennenden Gericht'". Das Weib fühlt das Recht, der Mann findet es nur, und oft genug ist sein "Erkennen" ein Fehlerkennen. Denn alle Welt klagt über die formalistische Starrheit und Künstelei der männlichen Rechtsprechung, die mit dem natürlichen Rechtsempfinden des Volkes so oft in Widerspruch tritt, einer konstruierten juristischen Theoretik nachjagend, an der die männliche Streitkunst, der Intuition entratend, sich mit Vorliebe, aber oft vergeblich zu orientieren sucht. Ganz abgesehen davon, daß es eine mittelalterliche Ungeheuerlichkeit ist, einen Mann über eine Mutter, die gefehlt hat, zu Gericht sitzen zu sehen. Die männliche Monarchie haben wir abgeschafft. Warum nicht das männliche Gesetzgeber- und Richterprivileg über weibliche Mutternot, die infolge unserer verkehrten Gesellschaftsordnung mit Notwendigkeit zu zahlreichen Verbrechen am keimenden Leben führen muß?

Wir verstehen die "Eumeniden" des Äschylos, wenn wir den Sinn der Goetheschen Iphigeniadichtung richtig verstanden haben. In den "Eumeniden", der Orestdichtung des Äschylos, wird der Sieg des damals modernen und neuartigen Vaterrechts über den uralten Muttergeist gefeiert. Ein herrlicher Sieg, fürwahr! - Klytämnestra erschlug den lasterhaften Agamemnon, der ihre, der Mutter, Tochter Iphigenia am Opfer altar hingeschlachtet hatte und der bei seiner Heimkehr nach Mykenae seine neuen Weiber mitbrachte. Orest, ihr Sohn, erschlug darauf Klytämnestra, seine Mutter, die ihm den Vater getötet hatte. Die Erinnyen traten als Klägerinnen gegen den Muttermörder auf, Apollo und Athene verteidigen ihn vor Gericht und erzwingen seinen Freispruch. Apollos Plaidoyer für die Vateridee und die Erlaubtheit des Muttermordes kennzeichnet hinlänglich den Verfall der Sitten, der sich unter dem Durchbruch des "apollinischen Sonnenprinzips", der Paternitätsidee im klassischen Griechenland verbirgt.

"Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin,
Sie trägt und hegt das aufgeweckte Leben nur"

Deshalb ist der Mutterrnord zu entschuldigen. So ApolI, der neue, strahlende Lichtgott des Vaterrechts. Der groteske, weil unbiologische Sinn dieser Sätze wird einem klar, wenn Apoll dann auf Athene verweist, die keine Mutter hat, sondern aus dem Haupt des Vaters Zeus geboren ward.

Denn Vater kann man ohne Mutter sein. Beweis Ist
dort die eigene Tochter des Olympiers Zeus,
Die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg,
Und dennoch kein Gott zeugte je ein edler Kind

So der von uns allen gepriesene Apoll bei dem von uns allen gepriesenen Äschylos. Ein Mythos, eine widernatürliche dichterische Idee muß als Beweisgrund dafür herhalten, daß der Vatermord unentschuldbar, der Muttermord aber entschuldbar sei, weil der Vater der wahre Ursprung des Kindes, die Mutter aber nur seine Schutzhülse sei. Man mag immerhin den antiken Dichterphilosophen mit seiner Unkenntnis biologischer Tatsachen entschuldigen, z.B. der, daß der männliche Same die weibliche Eizelle nicht erzeugt, sondern vorfindet und nur zur Entwicklung veranlaßt. Damit ist aber der unsittliche und gewalttätige Geist der Äschyleischen Männerrechts ethik nicht entschuldigt.

Darnieder stürzest du die Mächte alter Zeit

So rufen entsetzt die Erinnyen. Diese Mutterrechtsgöttinnen billigen keineswegs die Tat der Klytämnestra. Sie unterscheiden aber ganz logisch, daß die Schwere des Mordverbrechens sich im Falle des Orest dadurch erhöht, daß der Sohn der Mutter unmittelbar blutsverwandt ist, während die Gattin dem getöteten Gatten nicht blutsverwandt ist, nicht fleisches gleich. Muttermord ist also weit unsühnbarer als Gattenmord durch das Weib, der sich in der Natur z.B. bei der Biene oft genug findet. Der Gattenmord der Klytämnestra, den Orest rächte, ist also, so verwerflich er an sich auch ist, nach dem Rechtsempfinden der alten Mutterrechtsgottheiten für Orest nicht einmal als mildernder Umstand zu bewerten angesichts der Größe und Naturwidrigkeit des Delikts, daß der Sohn die eigene Mutter mordet. Daher verlangen sie mit Recht die Verurteilung des Muttermörders.

Die Stimmen der Richter sind gleich. Apoll, der Anwalt des Vaterrechts, hat nur die Hälfte der Richter überzeugen können. Orest wäre also bei Stimmengleichheit schuldig gesprochen worden. Da tritt Athene, die neue Vaterrechtsgöttin, auf und vollendet den Untergang des Mutterrechts mit folgenden Worten:

Mein ist es, abzugeben einen letzten Spruch,
Und für Orestes leg ich diesen Stein hinein
Denn keine Mutter wurde mir, die mich gebar,
Nein, vollen Herzens lob ich alles Männliche,
Bis auf die Ehe, denn des Vaters bin ich ganz
Drum acht ich minder sträflich jetzt den Mord der Frau

Darauf wird Orest durch den "Calculus Minervae" freigesprochen vom Muttermord. Düster tönt der Chor der Eumeniden:

O neue Götter, alt Gesetz, uraltes Recht,
Ihr reißt sie nieder, reißt sie fort aus meiner Hand

Sie erinnern den Apoll daran, daß er Letos Sohn sei, und rufen:

Alles niederstürzen wird neuer Brauch,
Wenn des gottlosen Muttermörders Schuld
Vor Gericht siegen darf

Vergebens! Orest wird freigesprochen, die Erinnyen dürfen ihn nicht mehr verfolgen, sein Gewissen, sein sittliches Empfinden braucht ihn nicht mehr zu quälen. Hat doch die Göttin selbst seine Tat für entschuldbar erklärt. Die "Tragödie des Muttergeistes" könnte man die Eumeniden des Äschylos nennen. Dabei geht die Tendenz des Stückes nicht etwa dahin, das Grauenhafte und Naturwidrige der neuen Männerrechtsbewegung am krassen Beispiel des Freispruchs eines Muttermörders durch den Calculus Minervae anschaulich klarzumachen, wie man vielleicht vermuten könnte. Nein! Äschylos ist überzeugter Anhänger der neuen vaterrechtlichen Weltanschauung. Seine Sympathie gehört nicht den dunklen Erdgöttinnen, die die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Mutterschoßes in jedem Falle verteidigen, auch wenn die Mutter gefehlt hat. Die Stimme unseres Herzens aber spricht für die Göttinnen des seelischen Schicksals, die der Moira dienen. Sie verbergen sich unter der Erde in sonnenleerer Nacht aus Scham über den Fehlspruch der Richter. Denn der Muttermörder verletzt die Urmutter selbst, deren Stellvertreterinnen die Erinnyen sind. Sie sind die Mütter des Orest, sie sind die wiedererstandene Klytämnestra selbst, die sich der Erdmutter vereinigte. Wie kann Orest bei Äschylos jubeln, daß er nun "entsühnt" zurückkehren könne in des Vaters Haus, in dem er die Mutter erschlug! Welch eine Sittenverderbnis verkündet der große, heute noch hochgefeierte Dichter Äschylos! Wie kann der Muttermörder am Ort seiner Tat leben und glücklich sein? Nur wenn die Idee der Mutter zertreten ist, ausgelöscht durch den athenischen Kalkül, kann er das. Dies nun geschieht.

Die thörichte Idee der mutterlosen Athene triumphiert in der Äschyleischen Weltansicht, die Verbildung, Abstraktion, juristische Fiktion des theoretisierenden vaterrechtlichen Mannesdenkens, während die heilige Natur zugrunde geht. Wir vernehmen die langgezogene Klage der Eumeniden, die entsetzt von dem Richtplatz des Äschylos hinwegziehen. Was berührt uns so düster in ihrem Gesang? Was greift uns so dunkel ans Herz?

Bei Äschylos kehren die Erinnyen um und werden versöhnt. Auch dies eine Erfindung des Dichters, die das Grauenhafte des Richterspruches herabmindern soll, die aber der Geschichte zuwiderläuft. In Wahrheit sind sie unversöhnlich. Die echten Erinnyen hätten sich an den "Calculus Minervae" nicht gekehrt, sondern die Schlangenhäupter geschüttelt und ihr Gericht weiter vollzogen. Denn den Muttermörder, so sagen sie, verfolgt die Erde selbst. Solange der Mord der Mutter nicht gerächt ist, kann die Erde keine Frucht mehr tragen. Die Ordnung der Mütterlichkeit in der ganzen Welt ist gleichsam zerstört. Nur der Tod entsühnt. Umgebogen wird also das Naturrecht bei Äschylos, das unstoffliche Mannesdenken, die theoretische Zurechtmachung, das Zeusgehirn wird apollinisch-solarisch verklärt und der Fußtritt in den Mutterleib entschuldigt. Und es ist auch kein Zufall, daß Athene bei Äschylos als Richtstätte den Areshügel bei Athen wählt, die alte Amazonenburg, die Theseus zerstörte. Auf den Trümmern des matriarchalischen Gedankens tagt also das apollinisch-äschyleische Männergericht, das die Urrechte der Mutter vernichtet. An der Stelle, wo die alten weiblichen Muttergottheiten gestürzt wurden, wird der neue Erdgott Mann gegründet und verherrlicht. Eine juristische Konstruktion wird zur Grundlage des Staates erhoben, an Stelle der Dikaiosyne und Sophrosyne der Mutteridee.

10. ZURÜCK ZUM MUTTERGEIST

So bilden die "Eumeniden" des Äschylos ein weithin sichtbares historisches Dokument, das den Sieg des Alleinherrschers Mann in der abendländischen Kultur schildert. Die Mutteridee wird bei Äschylos "der erhellten wie der düsteren Welt Strafgeist" genannt, das Mutterrecht eine Einrichtung der rohen Urzeit, wo noch die Blutrache galt, während die siegreichen apollinischen "Lichtmächte", die der Menschheit angeblich ein reineres, höheres Sittengesetz bringen, mit der Billigung eines Muttermordes die Herrschaft in der menschlichen Kultur antreten.

Das Sittlich-Groteske dieser Anschauung und Lehre ist nur durch die Reaktion gegen das Gewesene zu verstehen. Man muß von einer Revolution des Mannes sprechen, die in der heutigen Revolution der Frau ihr geschichtliches Seitenstück findet. Aber was damals vielleicht erklärlich und berechtigt schien, als die Gynäkokratie vielfach zum Amazonentum ausgeartet war, wurde in der Folgezeit, als die Entartungserscheinungen des Mutterrechts längst versunken waren, zum Fundament des Familien- und Staatsrechts. Noch heute herrscht in unserer Kultur die muttergeistfeindliche Athene, noch heute wird täglich die Mutter gemordet und wir leben in ihrem Hause wie Orest. Aber der Chor der Eumeniden ist auch da. Gleicht die Menschheit nicht jenem glücklosen, gejagten Orest, der an der gemordeten Mutter krankt? Den Schlußakt der Tragödie des Äschylos schreiben wir Heutigen. Die Eumeniden beugen sich nicht mehr unter den Richterspruch. Sie empfangen den heimkehrenden Orest an der Schwelle, die vom Blut der Mutter trieft. Er ruft Apollo zu Hilfe, der ihm die Tat des Muttermordes geheißen, um den Vater zu rächen. Aber diese antike Theatererfindung versagt, wo es ernst wird, in der Stille der Nacht, wo die Stimme des Gewissens lauter redet. Er ruft Athene zu Hilfe, die Göttin der Abstraktion. Aber auch diese unwirkliche und naturwidrige Zerebralgeburt des männlichen Ratiogeistes versagt vor der furchtbaren Wirklichkeit, in der wir heute leben. Die Mutterrechtsgöttinnen schütteln ihr Haupt, er büßt, er sühnt, der Orest Menschheit, auf tausenderlei Art.

Der Name "Eumeniden" besagt, daß diese Gottheiten die "richtige und gute Anschauung" haben. Ursprünglich sind sie freundliche Göttinnen der Erde, die das Leben wirken. Auch der Stamm "er" in Erinnyen besagt dasselbe wie unser "Erde". Kinder der mütterlichen Erdnacht sind sie, chthonische Mächte. Aber wenn die neuen Heroen, die "solarischen" Mächte, das Urrecht des Muttertums verletzen, steigen sie herauf mit Schlangenhäuptern und rächen die Mutter, das Mysterium der Generation überhaupt. Äschylos und die ganze androkratische Gedankenwelt der klassischen Antike verherrlicht das "Mysterium" der mutterlosen Zeugung in der Athenegestalt, bis das spätere Mittelalter die entgegengesetzte Idee der vaterlosen Zeugung in der Mariengestalt wenigstens religiös, wenn auch nicht juristisch und staatsrechtlich wieder zur Geltung brachte. Sind wir Heutigen so klug und biologisch so geschult, daß wir die rechte Mitte zwischen den Extremen nicht finden und nach ihr unsere Gesellschaftsordnung einrichten können?

Rousseau rief zuerst "Zurück zur Natur", und die ganze abendländische Menschheit erschrak und fühlte, daß er recht hat. Wir aber rufen "Zurück zum Muttergeist!" in seiner biologisch erkannten Berechtigung, seiner soziosophisch durchleuchteten Bedeutung, seiner praktischen Durchführbarkeit. Wir, die wir im Begriff stehen, die Idee der Mutter zu entdecken, die wir den "Muttertag" feiern, freilich ohne noch recht zu wissen, warum. Denn Tausende der gefeierten Mütter leiden und bluten noch unter dem Joch einer Gesetzgebung, die aus der athenischen Idee der mutterlosen Vatergeburt zuerst entsprang. Die Institution des "unehelichen Kindes", die wir von den Römern geerbt haben, klagt uns an und widerspricht der schönen Sitte, den Muttertag zu feiern. Wo hat denn das arme uneheliche Kind seine "Unehelichkeit", die es ächtet und schändet sein Leben lang? Nur im Gesetz, im römisch-juristischen Denken der Männer, das immer noch unsere Gesellschaftsordnung regiert, nicht im Herzen der Mutter, die es gebar. Im Angesicht der Natur ist jedes Geborene ehelich. Fort also mit dem "unehelichen Kind" aus unserm Recht! Können wir das Suffragium der Frau zulassen, warum nicht auch das "uneheliche Kind" beseitigen? Naturrechtlich hat das Kind vor allem eine Mutter. Deren Heiligkeit und Unverletzlichkeit zu schützen, auch wenn sie außerhalb der sogenannten "Ehe" gebar, ist Pflicht der Gesellschaft am Kinde, am Nachwuchs, an der Zukunft der Menschheit. Unser Geburtenrückgang, der immer erschreckendere Ausmaße annimmt, sollte uns hierfür die Augen öffnen.

So rächt sich jener Freispruch des Orest bei Äschylos. So klagen die Muttergottheiten. Sie klagen fort durch die Geschichte des untergehenden Abendlandes, die der Chor der Eumeniden begleitet wie ein düsterer und trauriger Gesang von Mord und Rache, von Schande und Gewalt, von Krieg, Verbrechen und Vertragsbruch, von Diktaturen, Staatsstreichen und Revolutionen, von Völkern und Menschheiten, die ersticken in Gesetzen und nie gehaltenen Bündnissen, die gemacht wurden, um die Menschheit, die sich vom Muttergeist entfernte, zu schützen vor dem größten und unversöhnlichsten Feind, den es für sie gibt, der Bestie Mensch.

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